Rudolf Carnap an Marie Lutman, 19. Juli 1935 Juli 1935

Sehr geehrte Frau Doktor!

Herr TARSKIPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker hat mir in Wien Ihr MS „Über den absoluten Wahrheitsbegriff…“B gegeben, und ich habe es mit lebhaftem Interesse gelesen. Ich würde es für sehr geeignet halten, wenn Sie diesen Aufsatz, oder wenigstens seine Hauptgedanken, in einem ReferatB auf dem Pariser KongreßIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 vortragen würden. Er wird dann ja auch später im KongressberichtB veröffentlicht werden. Sollte das nicht der Fall sein, so würde ich den Aufsatz gern in der „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift veröffentlichen.

Zum Ganzen möchte ich sagen, daß ich Ihren Ausführungen im ganzen durchaus zustimme. Über einzelne Punkte könnte man noch diskutieren. Aber im ganzen sind unsere Anschauungen noch mehr in Übereinstimmung als Sie anzunehmen scheinen. Nachdem ich einige Korrekturbogen von TarskisPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker AufsatzB gelesen und gesehen habe, daß er für den Wahrheitsbegriff eine vollkommen korrekte Definition aufstellt, stimme ich Ihnen durchaus zu, daß „wahr“ und die andern mit ihm zusammenhängenden Begriffe als wissenschaftlich einwandfrei anzusehen sind. Meine und andrer Leute frühere Skepsis gegen diese Begriffe war ja insofern historisch berechtigt, als keine Definition bekannt war, die einerseits formal korrekt war und andrerseits die Antinomien vermied. Und die diese Begriffe verwendende Theorie, die „Semantik“ im Sinn von TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker scheint mir ein wichtiges Wissenschaftsgebiet zu sein. Ich halte es für sehr verdienstvoll von TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker, daß er dieses neue Gebiet erschlossen hat. Ob wir die Semantik mit zur Wissenschaftslogik rechnen wollen, ist eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit, über die ich keine feste Meinung habe. Vielleicht würde es mir gefühlsmäßig näher liegen, nur rein-logische Sätze (d. h. solche ohne deskriptive Zeichen) zur Wissenschaftslogik zu rechnen. In diesem Fall würde man die Semantik zwar zur Wissenschaftstheorie, aber nicht zur Wissenschaftslogik zählen. Aber ich bin auch gern bereit, einen andern Sprachgebrauch zu erwägen. – In einem strengeren Sinn wird natürlich durch die Semantik ebensowenig ein neues Wissenschaftsgebiet gebildet wie durch die Syntax (vgl. SyntaxB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 S. 210).

Auch mit HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel bestehen in Wirklichkeit keine Meinungsunterschiede. Er hat nur unglücklicherweise (wie auch SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath und andere zuweilen) den Begriff „wissenschaftlich anerkannt“ oder „wissenschaftlich zulässig“ mit dem Terminus „wahr“ bezeichnet; aber seine Ausführungen treffen nicht denjenigen Begriff, den TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker definiert. Daß der eigentliche Wahrheitsbegriff kein syntaktischer Begriff ist, würde HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel sicherlich zugeben. Vielleicht wäre es deshalb zweckmäßiger, wenn Sie in bezug auf HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel nur auf die Unzweckmäßigkeit seines Terminus verweisen würden (oder vielleicht die Bemerkung ganz streichen). 🕮

Im Anfang (besonders S. 10 Anmerkung) liegen bei Ihnen einige, nicht bedeutende Mißverständnisse vor, indem Sie angenommen haben, daß bei mir „Syntax“ und „Syntaxsprache“ gleichbedeutend gebraucht werden. Das ist aber nicht der Fall. Als „Syntax“ bezeichne ich nicht eine Sprache, sondern eine in der Syntaxsprachefalsche Trennung: Syn tax sprache formulierte Theorie, d. h. eine Klasse von Sätzen. Und zwar als „reine Syntax“ die Klasse derjenigen Sätze, die syntaktische Termini, aber keine deskriptiven Zeichen enthalten. – Übrigens ist bei mir durch den Ausdruck „Syntaxsprache“ nichts darüber ausgesagt, wie reich oder arm diese Sprache ist. Ich nenne so jede Sprache, in der eine Syntax der betr. Objektsprache formuliert wird. (Die Syntaxsprache kann übrigens sehr wohl auch logisch ärmer sein als die Objektsprache).

Zu S. 54 ff. über „Pseudo-Objektsätze“ möchte ich bemerken, daß ich selbst (SyntaxB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 S. 210, 211) ausdrücklich bemerke, daß meine Verwendung dieses Terminus und besonders meine Behauptung, daß diese Sätze „sich in Wirklichkeit auf syntaktische Formen beziehen“, einer ungenauen Redeweise angehört. Diese ersetze ich dann durch exakte, formale Definitionen und Erörterungen, in denen jener Terminus und jene Behauptung nicht mehr vorkommt. Indem ich daher einerseits nicht wünschen möchte, daß jene Behauptung buchstäblich genommen und scharf analysiert wird, möchte ich doch andrerseits Ihrer Ansicht nicht zustimmen, daß ein quasi-syntaktischer Satz und der entsprechende syntaktische Satz sich gleichberechtigt gegenüberständen. Wenn wir (nach geeigneter Definition von „vierig“) die folgenden Sätze aufstellen

S1: „der Mond ist vierig“, S2: „das Wort ‚Mond’ hat 4 Buchstaben“‚

so scheint mir, wir können mit größerem Recht sagen, S1 spreche „in Wirklichkeit“ von dem Wort ‚Mond’, als, S2 spreche „in Wirklichkeit“ vom Mond. Der Kürze wegen muß ich mich hier mit diesen Andeutungen begnügen; ich hoffe, wir sprechen mal ausführlicher darüber. Vielleicht auf der Nachtagung, die in Holland oder Belgien stattfinden soll? Beim KongreßIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 selbst ist die Zeit immer sehr knapp.

Das MSB schicke ich Ihnen gleichzeitig rekommandiert zu. Ich habe mit Bleistift einige sprachliche Korrekturen eingefügt, die Ihnen vielleicht nützlich sind, wenn Sie das MSB für den Druck fertig machen.

Da ich TarskisPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker gegenwärtige Adresse nicht weiß, möchte ich Sie bitten, ihm die beiliegenden Blätter zuzuschicken.

Mit besten Grüßen

Ihr
ksl.

Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, RC 88-57-16; Briefkopf: msl. Pistyan, den 19. Juli 1935  /  Cyrillhof  /  Frau Dr. Marie Lutman  /  Paris.


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