\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 15.~Juli 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 15. Juli 1935}{Juli 1935} \anrede{Lieber Carnap!} \cutcn{\haupttext{Heute nur ein paar Worte zu Deinen Vorschlägen, die ich möglichst benutzen will. Wir \gesperrt{müssen} mehr gemeinsame Vorträge haben, weil gewisse wichtigere Personen nur auf diese Weise zur Wirkung kommen. Weiter. Es ist \gesperrt{wichtig}, daß die Menschen auf diesem Kongreß\II{\pariserkongress} \gesperrt{einander sehn und sprechen}. Sosehr ich die Diskussion fördere, Du mußt begreifen, daß die persönlichen Kontakte ungemein wichtig sind. Und vor allem sind die gemeinsamen Vorträge solche, von denen man annehmen muß, daß sie jeder gern hören will. Ich bin daher dafür, daß \gesperrt{jeder} Sektionshalbtag von einem gemeinsamen Vortrag eingeleitet wird, der dann in \gesperrt{einer} der Sektionen seine Fortsetzung und Diskussion findet. Im ganzen müssen wir uns bemühen, die \gesperrt{konkreteren} Probleme in den Vordergrund zu schieben. Frank\IN{\frankphilipp} klagt sehr, daß so wenig Einzelwissenschaftliches kommt usw. Nicht einmal Physik. Daher soll \gesperrt{Woodger}\IN{\woodger} vorn sein und \gesperrt{gemeinsam}. Das ist -- wenn Woodger\IN{\woodger} tüchtig ist -- endlich mal was \gesperrt{Neues}. Biologie in logistischer Aufmachung. Das darf noch nicht in einer Sektion untergehn. Während doch die entzückendsten Sachen von Tarski\IN{\tarski}, den ich auf jede Weise fördere, wie aus vielem erhellt, nach Sektion schreien, da doch nur ein kleiner Teil der Anwesenden sich speziell für diese Fragen interessiert -- etwa Prager Rede\IW{\tarskiuntersuchungen}\fnE{Publiziert als Tarski, ,,Einige methodologische Untersuchungen über die Definierbarkeit der Begriffe``.} -- und sie wieder nicht so sind, daß sie alle \gesperrt{angehen}, sozusagen unmittelbar. Problem ist der erste Vormittag -- Russell\IN{\russellkurz} will nur in Diskussion reden. Ich meine, die erste Aussprache über Vereinheitlichung der log\editor{ischen} Syntax soll in einer Sektion sein. Da sollen viele zuhören können. Ob am Montag noch jemand für eine Kommissionssitzung da ist, wollen wir abwarten, sicher ist das nicht. Zumal doch Du für die offiziellen Sitzungen nötig bist. Außerdem möchte ich, wenn über die Enzyklopädie gesprochen wird, daß über die einheitl\editor{iche} log\editor{ische} Zeichensprache schon irgendwas vorliegt, und wenn noch so vage. Die Vermehrung der Sektionen ist vorgesehn. Daß ein allgemeiner Vortrag an Sektionen anschließt, soll nur \gesperrt{einmal} stattfinden, nämlich am Schluß. Samstag Nachmittag ist so angefüllt, daß da keine Vorträge Platz haben, und wenn, dann nur einer. Das muß man abwarten. Man kann nicht einer Festversammlung, die auseinanderstrebt, zwei Vorträge zumuten -- so meine ich. Maarten Maartenshuis wird doch nicht gemacht, weil logistische Massenquartiere zu wenig beliebt, dafür irgendwo in den Argonnen oder in den Ardennen, zum gleichen Preis. Ihr bekommt alle bald Nachricht. Aber Ihr werdet jedenfalls im Haag erwartet. In Eile, in der Hoffnung auf rasche Antwort mit Gruß \grussformel{Dein\\Nth}} \briefanhang\noindent NB. Bibliographie. \noindent Rougier\IN{\rougier} fand die Idee sehr gut. Mit Reklame hat das nichts zu tun. Die Menschen sind dankbar für Bibliographien und ein Kongreßbericht mit Bibliographie verkauft sich besser. Dazu kommt, daß wir bisher nur Bibliographie von USA, Polen, ,,Wiener Kreis``\II{\schlickzirkel} haben. Wir hoffen jetzt \neueseite{}\zzz Frankreich, Italien, England einzufangen, so daß wir vielleicht eine wirkliche Bibliographie unserer Bewegung einmal beisammen haben werden. Praktisch gesprochen werden in der ganzen Welt Menschen diesen Kongreßbericht in Bibliotheken usw. in die Hand bekommen, während der Prager Bericht\IW{\vorkonfbericht} \gesperrt{notwendigerweise} einen kleineren Radius hat. Dazu kommt, daß die Kongreßakten \gesperrt{jedem} Kongreßbesucher zukommen, was auch eine ganz gute Orientierung von etwa 200 Menschen direkt und mindestens 400 indirekt bedeutet. Die Ant\ekl{i}-Reklame-Ideologie ist, glaube ich, von Schlick\IN{\schlick} emaniert. Es handelt sich doch darum, eine gute gemeinsame Basis zu kriegen. Wenn wir noch eine Sekte wären, aber \nicefrac{9}{10} von unseren Publikationen sind doch wirklich Wissenschaft und nur \nicefrac{1}{10} oder weniger Schulgezänk. Ich muß sagen, eine vollständige Bibliographie wäre mir auch wegen der Enzyklopädie erwünscht. Dir doch praktisch genommen auch. Und jedesmal wirds besser. Ich hoffe, bald wird man nach Problemen gruppieren können. Das setzt freilich mühsame Vorarbeit voraus. Überzeugt Dich das etwas? \neueseite{}} \noindent Ich erledige, da ich gerade etwas Luft habe, den ganzen Brief vom 10.~Juli. Ich glaube, daß Popper\IN{\popper} nicht sehr klar und nicht besonders konsequent ist. Die Art, wie er Gruppen bildet\fnA{\original{bilden}}, wie ,,die`` Positivisten, ist sehr komisch, auch mit ,,den`` Konventionalisten ists sonderbar. Wenn man bedenkt, was Poincar\'{e}\IN{\poincare} alles für die brave Invariante getan hat. Wie findest Du, daß Poppers\IN{\popper} Buch\IW{\popperldf} sich zu dem Hempels\IN{\hempel} über \editor{den} Wahrscheinlichkeitsbegriff\IW{\hempeldiss} verhält?\fnEE{Hempel, \textit{Beiträge zur logischen Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs}.} \cutcn{Die Scholzleute\IN{} müssen sich endlich melden. Bitte frag Du noch mal bei Dubislav\IN{\dubislav} an, ob er ins große Komitee eintritt und ob er bei uns spricht. Ganz unverständlich ist mir, daß \L{}ukasiewicz\IN{\lukasiewicz} verstummt ist, auch Ajdukiewicz\IN{\ajdukiewicz}. Sollten da auch irgendwelche Verstimmungen sein? Die Rougier\IN{\rougier}-Boll\IN{\boll} Sache habe ich notdürftig unter großen Anstrengungen so weit geleimt.\fnE{Siehe dazu oben, Brief Nr.~\refcn{1934-10-06-Neurath-an-Carnap}.} Brr. Was sich so Menschen einander an Grobheiten sagen \ldots\ Aber die Franzosen scheinen uns darin über zu sein. Also Nachtagung verlegen wir in Argonnen oder Ardennen. Maarten-Maartens"-huis ist doch zu schlafsaalmäßig. Und wenn schon der engere Kreis sich über das Logistiker-Massenquartier lustig macht, was sollen da erst die anderen dazu sagen.} Ich halte die Geschichte mit dem psychologischen Zorn auch als Diskussionsbeispiel für mehr verwirrend als klärend. Ich überlege jetzt ernsthaft, wie man eigentlich mit dem anderen sich ausspricht, der eine teilweise andere Sprache hat. Ich glaube, man müßte zeigen, wie mannigfaltig man ein Gebiet bearbeiten kann. Schweigendes ,,Wollen``, ,,Fühlen`` usw. sind eben Zustände des Nebenmenschen, auf die man doch aber aus irgendwelchen Umständen schließt. Die Umstände, die den Schluß gestatten, daß solcher Zustand da ist, sind geeignet, selbst Hilfsmittel eines Schlusses zu sein. Ich habe doch sogar die Halluzination in den Protokollsätzen drin, \editor{um sie mit zu haben}\fnA{\carnap{sie mit um sie zu haben}},\fnSE{Im Original: \glqq\ldots\ sie mit um sie zu haben, \ldots\grqq} eingeführt! Während ich mir gar nicht denken kann, wo sie bei Popper\IN{\popper} aufscheint. Ich glaube, daß Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} ganz grobe Metaphysik treibt und daß es sich um gar keine Mißverständnisse handelt, höchstens um die, die dadurch entstehen, daß Kaufmann meint, Du gebest ihm vielleicht doch mehr recht als ich. Ich habe Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} mehr als einmal gebeten, \gesperrt{Beispiele} aus der Soziologie, Nationalökonomie, Geschichte zu bringen, die er anders mit Prognosen ausstattet als ich, und, wenn gleich, müßte man sehn, wo der Unterschied in der Prämissenformulierung stecken soll. ,,Formulierungen`` -- sind gar nicht Sprechbewegungen. Ich habe diesen Terminus statt Sprechdenken gewählt, damit jeder beliebige Zustand damit gemeint sein kann. Aber ein räumlich-zeitlicher Ablauf. Darauf kommt es an, und \gesperrt{nur} darauf. Also Vorstellungszustand, Fühlungszustand usw. Und gerade das kann Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} nicht mitmachen. Ich habe nichts gegen ,,Motivationshandlung``, aber viel gegen ,,Motiv`` -- wobei man nicht weiß, ob das ein Ding oder ein Satz sein soll. \cutcn{Hoffe, daß Du Tinbergen\IN{\tinbergen} schon geschrieben hast. Daß Neider\IN{\neider} die Empirische Soziologie\IW{\neurathneuesbuch} besprechen\IW{\neiderrez} will, schrieb ich Dir schon. Wiederhole es nur zur Sicherheit. Wann kommt der Bericht des Prager Kongresses\IW{}? Weshalb hast Du Hempel\IN{\hempel} nicht unter den Leuten, die zur Nachtagung kommen sollen? Vergiß nicht, Reiseroute über Holland zu nehmen (Durchfahrt durch Deutschland sehr billig). Stebbing\IN{\stebbing} habe ich jetzt erst ins große Komitee vorgeschlagen. Ich spreche über Deine Vorschläge mit Rougier\IN{\rougier}. Wie in Sonderbrief angedeutet.} Gruß an Ina\IN{\ina} und Dich \grussformel{Nth} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808981}{RC 029-09-24 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Prof. R. Carnap\,/\,Pistyan} und \original{15.~Juli}; die zweite Seite ist nur zur Hälfte beschrieben, auf der dritten Seite oben msl. \original{Carnap Fortsetzung} und hsl. \original{15.\,7.\,35}.}