Neurath an Carnap, Den Haag, 15. Juli 1935 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 15. Juli 1935 Juli 1935

Lieber Carnap!

Ich erledige, da ich gerade etwas Luft habe, den ganzen Brief vom 10. Juli.

Ich glaube, daß PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper nicht sehr klar und nicht besonders konsequent ist. Die Art, wie er Gruppen bildetabilden, wie „die“ Positivisten, ist sehr komisch, auch mit „den“ Konventionalisten ists sonderbar. Wenn man bedenkt, was PoincaréPPoincaré, Henri, 1854–1912, fr. Mathematiker und Philosoph alles für die brave Invariante getan hat.

Wie findest Du, daß PoppersPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper BuchBPopper, Karl R.!1935@Logik der Forschung, Wien, 1935 sich zu dem HempelsPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel über den WahrscheinlichkeitsbegriffBHempel, Carl Gustav!1934@Beiträge zur logischen Analyse des Wahrscheinlichkeitsbegriffs, Diss., Berlin, 1934 verhält?

Ich halte die Geschichte mit dem psychologischen Zorn auch als Diskussionsbeispiel für mehr verwirrend als klärend. Ich überlege jetzt ernsthaft, wie man eigentlich mit dem anderen sich ausspricht, der eine teilweise andere Sprache hat. Ich glaube, man müßte zeigen, wie mannigfaltig man ein Gebiet bearbeiten kann.

Schweigendes „Wollen“, „Fühlen“ usw. sind eben Zustände des Nebenmenschen, auf die man doch aber aus irgendwelchen Umständen schließt. Die Umstände, die den Schluß gestatten, daß solcher Zustand da ist, sind geeignet, selbst Hilfsmittel eines Schlusses zu sein. Ich habe doch sogar die Halluzination in den Protokollsätzen drin, um sie mit zu habenbCarnap, Rudolf, 1891-1970, dt.-am. Philosoph, 1917-1929 verh. mit Elisabeth Carnap und ab 1933 mit Ina Carnapsie mit um sie zu haben1Im Original: „…sie mit um sie zu haben, …“ eingeführt! Während ich mir gar nicht denken kann, wo sie bei PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper aufscheint. Ich glaube, daß KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph ganz grobe Metaphysik treibt und daß es sich um gar keine Mißverständnisse handelt, höchstens um die, die dadurch entstehen, daß Kaufmann meint, Du gebest ihm vielleicht doch mehr recht als ich. Ich habe KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph mehr als einmal gebeten, Beispiele aus der Soziologie, Nationalökonomie, Geschichte zu bringen, die er anders mit Prognosen ausstattet als ich, und, wenn gleich, müßte man sehn, wo der Unterschied in der Prämissenformulierung stecken soll.

„Formulierungen“ – sind gar nicht Sprechbewegungen. Ich habe diesen Terminus statt Sprechdenken gewählt, damit jeder beliebige Zustand damit gemeint sein kann. Aber ein räumlich-zeitlicher Ablauf. Darauf kommt es an, und nur darauf. Also Vorstellungszustand, Fühlungszustand usw. Und gerade das kann KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph nicht mitmachen.

Ich habe nichts gegen „Motivationshandlung“, aber viel gegen „Motiv“ – wobei man nicht weiß, ob das ein Ding oder ein Satz sein soll.

Gruß an InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap und Dich

Nth

Brief, msl., 3 Seiten, RC 029-09-24 (Dsl. ON 220); Briefkopf: gedr. Mundaneum Institute The Hague mit näheren Angaben, msl. Prof. R. Carnap\,/\,Pistyan und 15. Juli; die zweite Seite ist nur zur Hälfte beschrieben, auf der dritten Seite oben msl. Carnap Fortsetzung und hsl. 15. 7. 35.


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.