\brief{Otto Neurath an Felix Kaufmann, Kopie an Carnap, 13. Juli 1935}{Juli 1935} \anrede{Lieber Herr Kaufmann!} \haupttext{ Sie berichten über Gespräch mit Carnap und fragen mich, wie weit die Physikalismus-Auffassung Ratschläge für wissenschaftliche Arbeit gibt. Darauf folgendes: Auf Grund eines langen persönlichen Training[s] habe ich gewisse Termini, die erfahrungsgemäß verwirrend wirken, ausgeschaltet, darunter solche, die wir zu den „metaphysischen“ rechnen, aber auch solche, die verwirrend sind. Sie werden z.\,B. in all meinen Publikationen vergebens das Wort „Kapital“ suchen. Ich kann Ihnen aber zeigen, daß nicht nur die Autoren einander mißverstehen, sondern die Autoren sich selbst, wenn sie dies Wort gebrauchen. Oder „Gebrauchswert“ und ähnliches mehr. Sätze wie: „Dieser Vorgang ist nur teleologisch erklärbar“ schaltete ich seit mehr als 20 Jahren aus, weil sie fast immer metaphysische sind oder irgendwie unsauber verwendet werden. So ists mit vielen anderen Termini. Große Schwierigkeiten ergeben sich immer, wenn man von einer Disziplin zur anderen hinübergeht, obgleich man doch ständig alle Sätze „in einer Ebene formuliert“, wenn man etwas prognostiziert usw. Daher der Gedanke zu versuchen, mit \gesperrt{einer} Sprache auszukommen. Und nun zeigt sich, daß dies geht. Und ich sehe, daß man vielen Fehlproblemen so ausweicht. Nun bat ich Sie schon einmal, mir zu sagen, was Sie für Aussagen wissenschaftlich benötigen, die ich Ihnen angeblich verbiete. Wenn z.\,B. davon gesprochen wird, eine Sache habe Wert, so frage ich, ob es genügt zu sagen, sie erzeuge unter Umständen einen Lustzustand. Usw. Damit bin ich mitten in physikalistischen Formulierungen ohne Gefahr. \gesperrt{Ein paar Beispiele zeigen weit mehr}. Und da man nicht miteinander sprechen kann, wäre doch gut, Sie schrieben mir mal was drüber. Ich bin sehr gespannt, was Sie über Werttheorie schreiben, da ich sie für ein bloßes Derivat der Geldlehre ansehe, da man von einem geldfreien Standpunkt aus, wie ich meine, \gesperrt{überhaupt nicht zu diesen Problemen ungezwungen kommt}. Ich sehe nur, daß man sagen kann, eine bestimmte Anordnung der Elemente erhöhe einen Lustzustand. In der Sprache der österr\editor{eichischen} Wertlehre: alle „Güter“ (ein Terminus, den ich nicht verwende) sind komplementär. Vor allem würde man ebenso die Lustherabsetzenden Elemente berücksichtigen müssen und dann zeigt sich besonders deutlich, daß man nicht Elementen Wertgrößen so zuordnen kann, wie man Dingen Preise zuordnen kann. Von dieser Zuordnung her stammt aber all das. Was das mit dem Physikalismus zu tun hat? Wenn man ernsthaft die physikalistische Formulierung anstrebt, sind Termini, wie „Güter“, „Wert“ usw. von vornherein höchst verdächtig. Zumal man ja ihre Geschichte kennt. Wenn Wertproblem bedeutet: Wovon hängt Lustzustand ab -- all right. Wenn \gesperrt{mehr}, dann bin ich gespannt, was es mehr bedeuten soll. Ich bin 20. in Brüssel, schade, daß Ihre Frau um die Zeit noch nicht da ist. Grüßen Sie mir Ihre Frau und sich und bringen Sie mal konkrete Beispiele aus der Wissenschaft, zu denen ich mich äußern soll, oder nehmen Sie etwas, das ich sage -- Konkretes. } \grussformel{Ihr} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/808983}{RC 029-09-25 (weiterer Dsl. ON 255)}; Briefkopf: msl. \original{Carnap}, \original{Herrn Dr. Felix Kaufmann\,/\,Wien} und \original{13.Juli 1935}; Durchschläge nicht unterschrieben.}