\brief[Carnap an Neurath, Pistyan (Piešťany), 10.~Juli 1935]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 10. Juli 1935}{Juli 1935}\labelcn{1935-07-10-Carnap-an-Neurath} \anrede{Lieber Neurath!} \haupttext{ Besten Dank für zahlreiche Briefe. Soeben kommt der vom 6. und vom 8. mit zahlreichen Beilagen; ich beeile mich zu antworten. Zu Popper\IN{\popper}. Ich stimme ihm nur deshalb zu, weil ich seine Ansichten im Sinne unseres Empirismus verstehe.\fnEE{Nur wenige Tage vorher, während Carnaps Aufenthalt in Wien, bestätigte Popper mündlich, ,,dass er den Empirismus nirgends abgelehnt hat`` (TB~29.\,6.\,1935\diaryref{TB-29-6-1935}).} Sollte sich herausstellen, daß er tatsächlich einen Absolutismus vertritt, so würde ich selbstverständlich das nicht mitmachen. Ich vermute aber z.\,B., daß die Redeweise vom experimentum crucis nur \glqq gewissermaßen\grqq\ gemeint ist, und dann wäre sie ja berechtigt. Das müßte man im Gespräch näher ergründen. Gegen seine Ablehnung der Existenzsätze bin ich auch entschieden; darüber schreibe ich ausführlich in einem engl\editor{ischen} Aufsatz (Entgegnung auf Lewis\IN{\lewis})\IC{\lewisaufsatz}, an dem ich gerade arbeite.\fnEE{Carnap, ,,Testability and Meaning``, §~25.} Gewiß werden wir etwas von Dir über Popper\IN{\popper} gern und schnell veröffentlichen; in Heft 4 wird es aber wohl kaum mehr möglich sein, da es schon fertig gesetzt ist und schon der Umbruch vorliegt. \cutcn{An Scholzleute\IN{} schreibe ich. Sie wissen vermutlich noch nicht, ob sie reisen können. Ich hatte ursprünglich die Absicht, wegen der Polen nur an Dich zu schreiben. Da Tarski\IN{\tarski} aber sagte, daß die Zeit sehr drängt, habe ich direkt an Rougier\IN{\rougier} geschrieben.\fnE{Rudolf Carnap an Louis Rougier, 3.~Juli 1935, ON 220.} \uline{Nachtagung}. Daß wir uns treffen, ist sehr schön. Bitte reserviere Zimmer für mich und Ina\IN{\ina} (wenn es auch noch nicht ganz sicher ist, ob sie mit nach Paris kommt). Aber ich habe etwas Bedenken wegen der Unterbringung in Schlafsälen. Ich selbst habe früher (bei Volkshochschlutagungen u. dergl\ekl{eichen}) mit Vergnügen derartiges mitgemacht. Ich denke aber, daß es den meisten in Betracht kommenden Teilnehmern nicht erwünscht sein wird, gerade während solcher anstrengender Tage und nach dem sehr anstrengenden Kongreß\II{\pariserkongress}. Für mich selbst kommt es jedenfalls nicht in Frage. Du darfst nicht von Deinen Schlaffähigkeiten, die exzeptionell sind, auf die der andern schließen.} Zu \glqq Zorn\textsubscript{ps}\grqq. Nicht ich verwende diesen Begriff; sondern ich sage ja, daß die Umgangssprache nur einen kennt. Vielmehr sage ich: selbst wenn man, wie die Philos\editor{ophie} und Psychol\editor{ogie} gewöhnlich, zunächst 2 verwendet, gelangt man schließlich zur Vereinheitlichung.\fnEE{Vgl. Carnap, ,,Les concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncièrement différents?\grqq; die Schlussworte dort lauten, in der Fassung des deutschen Manuskripts (\href{https://doi.org/10.48666/991024}{ON~380/R.14-1}): ,,Schließlich kommen wir zu dem Ergebnis, daß die anfangs angenommene Zweiteilung der Sätze nur eine von der Philosophie hervorgerufene unnötige Verdopplung ist. Wie es scheint, weist die Umgangssprache diese Verdopplung gar nicht auf.``} Zu \glqq Fremdpsychisch``. Gewiß hast Du Dich nicht gegen die \glqq Formulierungen (d.\,h. Sprechbewegungen) des Nebenmenschen\grqq\ gewendet. Das weiß Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} ja auch. Er meinte aber, wir lehnten es ab, vom Denken, Fühlen, Vorstellen, Zweifeln, Wollen, Wünschen usw. der Nebenmenschen zu sprechen (falls es schweigend geschieht), und diese Mißdeutung scheint mir durch manche Deiner Formulierungen nahegelegt. Der Behaviorismus lehnt das ja wirklich ab; ich aber nicht; Du im Grunde doch wohl auch nicht? Oder? Ich werde Hempel\IN{\hempel} wegen Rez\editor{ension} Deines Buches\IW{\neurathneuesbuch} fragen. \neueseite Ich riet Popper\IN{\popper} ab, seine Gedanken zur Quantenmechanik vorzutragen; nach Aussage von Frank\IN{\frankphilipp} u. Gödel\IN{\goedel} stimmen sie nicht, oder nur zu einem gewissen Teil. Wichtiger erscheinen mir seine Darlegungen (auch im Buch\IW{\popperldf}) gegen Reichenbachs\IN{\reichenbach} Induktionsauffassung. Das gäbe interessante Diskussion, wie in Prag begonnen, jetzt, da beider Bücher\IW{\popperldf}\IW{\reichenbachwahrscheinlichkeit} gedruckt,\fnEE{Popper, \textit{Logik der Forschung}; Reichenbach, \textit{Wahrscheinlichkeitslehre}.} genauer faßbar. Ich wäre dafür, daß er bei Induktion nicht nur zur Disk\editor{ussion} spricht, sondern ausführlicher. \cutcn{An Tinbergen\IN{\tinbergen} schreibe ich. Der Bericht des Prager Kongresses\IW{\vorkonfbericht} ist noch nicht erschienen. \underline{Voherdruck}\blockade{CD: was heißt das?} der Referate ist gewiß nützlich. Aber im vollen Umfang praktisch unmöglich. Ich stimme Rougiers\IN{\rougier} Vorschlag zu (wenn ich Deine Andeutung richtig verstehe), Résumés zu drucken; etwa von jedem Vortrag 1--2 Seiten; und dazu, falls nicht schon in französisch, franz\editor{ösische} Übersetzung. Und nachher nicht alles ausführlich, sondern nur das Wichtigste; das Übrige nur im Résumé. Die Tagesordnung des Pariser Phil\editor{osophen}-Kongresses\II{}\fnE{\labelcn{1935-07-10-Carnap-an-Neurath-Mind}Gemeint ist vermutlich der 9.~Internationale Kongress für Philosophie in Paris 1937 (Congrés Descartes), dessen Einteilung bereits 1935 veröffentlicht wurde (siehe z.\,B. \textit{Mind} 44 (No.~176), 1935, S.\,550f.} haben anscheinend die franz\editor{ösischen} Phil\editor{osophen} beschlossen; anscheinend in Anknüpfung an cartesische Ideen, daher die seltsame Übereinstimmung mit uns. (Villeicht hatten sie auch etwas von uns gerochen und wollen sich nun aktuell drapieren). Schon wieder Bibliographie? 2 Jahre hintereinander ist etwas zu viel Reklame für uns! Dann hätten wir es im Prager Bericht\IW{\vorkonfbericht} weglassen sollen.\fnE{Vgl. die Bibliographien im Bericht der Prager Vorkonferenz 1934, \textit{Erkenntnis} 5, 1935, S.\,185--203.} Für Nachtagung einladen: Stebbing\IN{\stebbing}, Woodger\IN{\woodger}, Tarski\IN{\tarski}, viell\editor{eicht} Grelling\IN{\grelling}, Lutman\IN{\lutman}, Hosiasson\IN{\hosiasson}. Ist Stebbing\IN{\stebbing} nicht im großen Komitee\fnA{\original{Kommittee}}? Über Kongreßprogramm separat. \textkritik{Schicke oder zeig das bitte auch}\fnA{Hsl. Korrektur von \original{Durchschlag davon schicke ich an}.} Rougier\IN{\rougier}, damit Ihr bei Eurer Zusammenkunft am 21. \textkritik{}\fnA{Hsl. Streichung von \original{schon}.}\zzz darüber sprechen könnt.} Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus } \grussformel{Dein\\R. Carnap} \cutcn{\briefanhang{\neueseite{} \uline{Carnap\incarnap{}. Bemerkungen zu Neuraths\inneurath{} Entwurf des Kongreßprogramms.} \medskip \noindent \uline{Allgemeines}. In großen Zügen einverstanden. Die Hauptthemata sind gut gewählt, ebenso die Verteilung der Redner auf die Themata. Betonung der gemeinsamen Sitzungen ist gut. Trotzdem wird Einschränkung dieser Sitzungen unerläßlich sein, aus Zeitmangel. Sicherlich werden sich in den beiden Monaten noch sehr viele zu Vorträgen anmelden. Da hilft nur: mehr Halbtage für Sektionen hergeben (obwohl das gewiß schmerzlich ist) und: mehr Sektionen gleichzeitig (obwohl die Nachteile auch ersichtlich). Darum kann ich dem Prinzip ,,an den beiden ersten Tagen keine Sektionen`` nicht unbedingt zustimmen, sondern nur, falls das gut geht. Vorm\editor{ittags} höchstens 5, nachm\editor{ittags} höchstens 4; ja! Höchstens! Besser sogar noch weniger, um Raum für Diskussion zu lassen. Aber an Sektions-Halbtagen auf keinen Fall auch noch gemeinsamen Vortrag! Nachher ganz unmöglich, weil die Sektionen zu verschiedenen Zeiten enden. Und vorher sehr schlecht, weil viel Zeit durch die neue Verteilung der Leute verloren geht und die Sektionen zeitlich zu kurz kommen würden. Ich plädiere noch einmal dringend für Anfang 9\,\nicefrac{1}{2} Uhr! Prinzip: Diskussion nicht nach den einzelnen Vorträgen,\fnAmargin{Hsl. \original{\textsp{ja!}}.} sondern nach allen Vorträgen eines Halbtags. Nach den Prager Erfahrungen unbedingt nötig. \bigskip \noindent Ich mache einen unverbindlichen Entwurf, nur als Anregung, im wesentlichen Neuraths\inneurath{} Entwurf, mit Modifikationen: \begin{list}{}{\setlength{\leftmargin}{4mm} \setlength{\itemindent}{-4mm}} \item \uline{I. Tag. Vorm\editor{ittag}:} ,,Einheitswiss\editor{enschaft} u. Phys\editor{ik}``. Russell\IN{\russellkurz}, Kotarbiński\IN{\kotarbinski}, Bachelard\IN{\bachelard}, Neurath\inneurath{} (Allgemeineres, nicht nur üb\editor{er} Soziologie; mit prak"-t\editor{i"-schen} Ausblicken auf Kooperation der Einzelwiss\editor{enschaften}, auf Enzyklopädie usw.). \subitem \uline{Nachm\editor{ittag} Sektionen.} 1) Anwendung des Physikalismus: Frank\IN{\frankphilipp}, Boll\IN{\boll} (oder anderer üb\editor{er} Psychol\editor{ogie}), Neurath\inneurath{} (kurz über Soziol\editor{ogie}). Dann Zeit für Disk\editor{ussion} üb\editor{er} Physikalismus!\\ (oder IV. Vorm\editor{ittag}) 2) Mathematik: Lautman\IN{}, Mariani\IN{}, Mania\IN{}, \ldots{} \item \uline{II. Vorm\editor{ittag}} Log\editor{ische} Syntax; Empirismus u. Logik. Carnap\incarnap{}, Morris\IN{\morris}, Rougier\IN{\rougier}, Feigl\IN{\feigl}, (Ajdukiewicz\IN{\ajdukiewicz}?) \subitem \uline{Nachm\editor{ittag}} Emp\editor{irismus} u. Logik. Enriques\IN{\enriques}, Tarski\IN{\tarski} (,,Philosophie, Semantik u. Syntax`` oder ähnliches), \ldots{} \item \uline{III. Vorm\editor{ittag}} Induktion, Wahrsch\editor{einlichkeit}, Mehrwertige Logik. \L{}ukasiewicz\IN{\lukasiewicz}, Reichenbach\IN{\reichenbach}, Popper\IN{\popper} (Induktion); Diskussion. \subitem \uline{Nachm\editor{ittag} Sektionen.} 1) Induktion u. Wahrsch\editor{einlichkeit}. Hosiasson\IN{\hosiasson}, Schlick\IN{\schlick} (vorgelesen), \ldots{}; Disk\editor{ussion}: Siwek\IN{\siwek}, \ldots{}\\ 2) Ausschaltung von Scheinproblemen. Matisse\IN{}, Vouillemin\IN{\vouillemin}, \ldots{}\\ 3) Erk\editor{enntnis}-Th\editor{eorie} u. Psychol\editor{ogie} Tranekjær\IN{}\fnA{\original{Trankjär}}, \ldots{} \item \uline{IV. Vorm\editor{ittag} Sektionen.} 1) Verifikation, Protokollsätze. Poznanski\IN{\poznanski}, (Hempel\IN{\hempel}?), (Carnap\incarnap{}?), Braithwaite\IN{\braithwaite}, \ldots{}\\ 2) Sprache. Massignon\IN{}, Masson-Oursel\IN{}, Nicolle\IN{\nicolle}, Chevalley\IN{}.\\ (Viell\ekl{eicht}: 3) Mathem\editor{atik}, siehe I. Nachm\editor{ittag}) \subitem \uline{Nachm\editor{ittag} frei.} \item \uline{V. Vorm\editor{ittag} Sektionen.} 1) Wissenschaftslogik einzelner Wissenschaften. Woodger\IN{\woodger}, Hempel\IN{\hempel}, \ldots{}\\ 2) Logik. Gonseth\IN{\gonseth}, Lindenbaum\IN{\lindenbaum}, Grelling\IN{\grelling}, Reymond\IN{}, Sperantia\IN{\sperantia}.\\ 3) Soziol\editor{ogie} u. Gesch\editor{ichte} d\editor{er} Wiss\editor{enschaften}. Zilsel\IN{\zilsel}, Hollitscher\IN{\hollitscherwalter}, \ldots{} \subitem \uline{Nachm\editor{ittag} Sektionen}. (Falls dieser Nachm\editor{ittag} nicht noch durch wei\neueseite{}"- tere Vortragsanmeldungen besetzt werden muß, viell\editor{eicht} ohne festes Programm lassen, damit er offen bleibt für Sektionsdiskussionen, die sich im Laufe des Kongresses als wünschenswert erweisen). \item \uline{VI. Vorm\editor{ittag} Sektionen}. 1) Enzyklopädie. Neurath\inneurath{}, \ldots{}\\ 2) \ldots{} (hier keine wichtigen Sekt\editor{ion}, damit alle wichtigen Leute zu (1) kommen; es wird aber nötig sein, auch für weniger wichtige Referate noch Zeit anzusetzen). \subitem \uline{Nach\editor{ittag} Schlußsitzung}. Jørgensen\IN{\joergensen}, Rougier\IN{\rougier}. -- Schlußwort (von einem würdigen Herrn, z.\,B. \L{}ukasiewicz\IN{\lukasiewicz}?). \item \uline{VIII.} (Mo.) \uline{Vorm\editor{ittag}}. Kommissionen. 1) Vereinheitlichung der Terminologie und Symbolik der Logik. Carnap\incarnap{}, Helmer\IN{\helmer}, Becker\IN{\beckeralbrecht}. (Ich werde ausführlichen Entwurf eines Fragebogens zur Terminologie vorlegen, der dann später veröffentlicht oder vervielfältigt werden soll. Ich werde vorher noch mit den inbetracht Kommenden darüber korrespondieren.) \end{list} \noindent Aus den Prager Erfahrungen ist zu lernen: \noindent 1) In der allerletzten Zeit vor dem Kongreß kommen immer noch Vortragsanmeldungen, darunter manche, die man nicht gern abweisen wird. \noindent 2) Es müssen unbedingt Sektionen für weniger wichtige Vorträge geschaffen werden; die können ruhig gleichzeitig mit Sektionen, die uns wichtig sind, sein; die meisten Leute werden dann trotzdem zu der wichtigen Sektion kommen. } \grussformel{R.\,C.}} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808994}{ON 220 (Dsl. RC 029-09-28)}; Briefkopf: gedr. \original{Prof. Dr.~Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.\,/\,Pod Homolkou 146}, msl. \original{Pistyan, den 10. Juli 1935\,/\,Cyrilhof}.\newline\noindent Beilage ,,Carnap. Bemerkungen \ldots``: msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808987}{ON 220 (Dsl. RC 029-09-27)}; erste Seite oben: nachträglich msl. \original{für 21.~Juli. Mitnehmen zu Rougier!\,/\,Spezialmappe} und msl. \original{10.~Juli 1935}.}