\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 6.~Juli 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 6. Juli 1935}{Juli 1935}\labelcn{1935-07--06-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{\cutcn{Daß man mit Zeitschriftenpropaganda \nicefrac{1}{2} Jahr früher beginnen sollte, ist zwar richtig. Aber man hat doch erst Mitte April endgiltig gewußt, daß der Kongreß\II{\pariserkongress} gemacht wird, worauf es lange dauerte, bis wir die Einladungen hatten usw. Wir haben weit über 2000 Einladungen versenden lassen, auch an alle Universitäten. Ich persönlich bin gar nicht so dafür, daß wir alle möglichen Besucher bekommen. Je mehr wir unter uns sind, umso besser. Natürlich muß es eine ansehnliche Sache sein, aber ca. 150 Besucher sind ja sicher, wahrscheinlich mehr. 60 Referate ist schon sehr viel. Mit Mühe bringt man sie unter. Bitte schreib mir umgehend, daß Du nach ZONHEUVEL zu der Nachtagung kommst. Ich hoffe, Ihr seid vorher auf der Durchreise im Haag, vielleicht auch darnach. Die Kosten des Aufenthalts in ZONHEUVEL sind ja gering. Bitte schreib auch, ob Ina\IN{\ina} mitkommt. Ich möchte die Räume reservieren lassen, damit sie uns nicht wegschwimmen. Mir schrieb Grelling\IN{\grelling}, daß er über Antinomien sprechen will -- auf meine Einladung hin. Bitte sag mir, wie sicher Du diese Mitteilung hast und seit wann? Am besten wäre es, er schriebe mir. Ich werde \ekl{über} MENSCH UND GESELLSCHAFT IM PHYSIKALISMUS\IW{\neurathvortragpariseins} sprechen.\fnE{Publiziert als Neurath, ,,Mensch und Gesellschaft in der Wissenschaft``; weiters publiziert in den Kongreßakten sind Neurath, ,,Einzelwissenschaften, Einheitswissenschaft, Pseudorationalismus``, und ,,Une Encyclopédie internationale de la science unitaire``.} Ich werde wenigstens ein paar Worte über Psychologie sagen, da Boll\IN{\boll} zwar nach langem hin und her ins Komitee eintrat, aber nicht sprechen will. Frank\IN{\frankphilipp} soll womöglich über Biologie und Physik reden. Dann ist diese Seite der Sache von uns aus halbwegs gedeckt. Ich habe, wie Du gesehn hast, Deinen Vortrag als ersten für den zweiten Tag vorgeschlagen. Da ist im Programm Logische Syntax. Daraus solltest Du was wählen. Aber Du kannst auch etwas über Wissenschaftslogik wählen. Es will ja Morris\IN{\morris} sprechen, Feigl\IN{\feigl}, wie Du siehst, über irgendeine Art Rettung des Realismus. Usw. Was Matisse\IN{} bringen wird, ahne ich nicht. Bitte schreib bald, was Du planst. Es überwiegen die logischen Sachen, was ich ja nicht sehr begrüße, weil der logisierende Empirismus wichtig ist. Die Scholzleute müssen \gesperrt{rasch} anmelden, wenn Sie noch reden wollen. Bitte veranlassen, daß sie mir schreiben. Du hast das nun mal begonnen, also setze fort. Bis jetzt sind zugeflogen nur der Päpstliche\IN{\siwek} und der Rumäne\IN{\sperantia}.\fnE{Paul Siwek bzw. Eugenio Sperantia; vgl. oben, Brief Nr.~\refcn{1935-07-01-Neurath-an-Die-Fuenf}.} Die Universität Warschau\II{\universitaetwarschau} hat merkwürdigerweise Kotarbiński\IN{\kotarbinski} und Tartarkiewicz\IN{} delegiert (der war auch auf dem Philosophenkongreß in Prag\II{\kongressphilosophieprag}). Hingegen habe ich von Łukasiewicz\IN{\lukasiewicz} noch keine Nachricht, trotz mehrmaliger Mahnung. Es wäre mir lieb gewesen, wenn Du den Brief an Rougier\IN{\rougier} über mich geleitet hättest, nicht als ob ich was gegen ihn hätte.\fnE{Rudolf Carnap an Louis Rougier, 3.~Juli 1935, RC 029-24-06.} Aber im Auftrage von Łukasiewicz\IN{\lukasiewicz} hat das gleiche die Dr. Hosiasson\IN{\hosiasson} mich gebeten. Und ich habe nun, freilich in deutscher Sprache, feierliche und rühmende Briefe an alle geschickt, die kommen wollen. Schon vor einiger Zeit. Eben, um die Reise zu erleichtern. So lautet jetzt der Vortragstitel von Kotarbiński\IN{\kotarbinski} anders usw. Es ist alles schon vor einiger Zeit geschehn. Ich schreibe Rougier\IN{\rougier} mit gleicher Post. Durchschlag liegt bei.\fnE{Otto Neurath an Louis Rougier, 6.~Juli 1935, RC 029-09-32.} Bisher sind endgiltig Vorträge von Zawirski\IN{\zawirski}, Kotarbiński\IN{\kotarbinski} angekündigt.} Kaufmann\IN{\kaufmannfelix}-Antwort gelesen.\fnEE{Rudolf Carnap an Felix Kaufmann, 26.~Juni 1935 (Felix Kaufmann Papers, Center for Advanced Research in Phenomenology, University of Memphis), ist Carnaps Antwort auf die Physikalismus-Kritik Kaufmanns; offensichtlich erhielt Neurath einen Durchschlag.}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{meine Antwort an}}.} Ich weiß nicht genau, warum Du Wert darauf legst, Dich an die Terminologie der anderen anzupassen und von Zorn\textsubscript{ps} zu sprechen. Das ist doch nur ein physikalistischer Spezialfall, durch die Art der Beobachtung.\\\medskip Etwa:\hspace{2 mm} Karl formuliert spürend: Karl ist zornig.\hspace{2 mm} Im Gegensatz zu:\noindent\hspace*{6 mm} Franz formul\editor{iert} sehend: Karl ist zornig.\fnE{Vgl. dazu Carnap, ,,Les concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncièrement différents?\grqq; nach der Lektüre des deutschen Manuskripts äußerte Neurath schon früher entsprechende Kritik; vgl. oben, Brief Nr.~\refcn{1935-02-09-Neurath-an-Carnap}.}\smallskip \noindent Etwa:\hspace{2 mm} Karl formuliert spürend: Karl ist zornig.\hspace{2 mm} Im Gegensatz zu:\noindent\hspace*{6 mm} Franz formul\editor{iert} sehend: Karl ist zornig.\fnE{Vgl. dazu Carnap, ,,Les concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncièrement différents?\grqq; nach der Lektüre des deutschen Manuskripts äußerte Neurath schon früher entsprechende Kritik; vgl. oben, Brief Nr.~\refcn{1935-02-09-Neurath-an-Carnap}.}\smallskip \noindent Ich sehe nicht die Notwendigkeit, zwei ,,zornig`` zu verwenden.\fnSE{Vgl. Carnap, ,,Les concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncièrement différents?\grqq; vgl. dazu auch oben, Brief Nr.~\refcn{1935-02-09-Neurath-an-Carnap}.} Oder würdest Du auch Runder Tisch (getastet) und Runder Tisch (gesehn) schreiben und dann \neueseite{}\zzz beide gleich setzen? Ich erinnere mich nicht, daß ich irgendwann die Formulierungen des Nebenmenschen auch nur in übertriebener Sprache angegriffen hätte? Nur gegen die Termini ,,Fremdpsychisch`` usw. habe ich mich gewendet. Aber: Napoleon\IN{\napoleon} formulierend: in Waterloo sind Truppen, ist doch völlig bei mir legitim. Immer gewesen. Aber Du mußt an was Bestimmtes denken. Ich hab auch in der Soziologie\IW{\neurathneuesbuch} und sonst gesagt, daß man besser prognostiziert, wenn man nicht die Formulierungen der Menschen einsetzt, sondern andere Größen -- als Polemik gegen die Schlicksche\IN{\schlick} Art der ethischen Deduktionen. Popper\IN{\popper}-Brief nicht bekommen. Im Verkehr Holland-Österreich geht manches verloren. Auch ein Manuskriptteil von mir und, wie es scheint, einige Briefe. Bitte sag Popper\IN{\popper}, er soll gleich schreiben. Ich schrieb ihm, daß ich auf alle Fälle ihm ein Referat Logisches zur Quantenmechanik reserviert habe. Wegen Reiseermäßigung soll man an Wagons/Lits schreiben. Adresse im Programm. Ach, wenn ich nicht auf gute Art erreichen kann, daß die Erkenntnis\II{\erkenntnis} meine Empirische Soziologie\IW{\neurathneuesbuch} bespricht, werde ich halt traurig darauf verzichten müssen. Wenn Frank\IN{\frankphilipp} nicht will, wäre es noch das beste, wenn sie Hempel\IN{\hempel} bespräche, und zwar \gesperrt{nur soweit logische Probleme} auftreten. Also die Sache mit den Sätzen. Kontrollsätze\fnA{\original{Kontrollsätzen}} -- die dort zuerst erwähnt sind -- aber als Protokollsätze usw. Über Prognosemehrdeutigkeit usw. Dann wäre wenigstens das überwunden. Auch Prof. Kraft\IN{\kraftvictor} könnte es tun. Er hat sie einmal im Sociologus\II{\sociologus}\IW{} besprochen.\fnE{Kraft, ,,[Rezension von:] Otto Neurath, \textit{Empirische Soziologie}``; der Name der Zeitschrift lautet korrekt \textit{Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie}, erst ab 1932 erschien sie unter dem von Neurath genannten Namen.} Sonst ist ja bei uns keine besondere Neigung für Sozialwissenschaftliches da. Na, das mit dem gespannten Fuß war nicht so schlimm gemeint (woher kommt übrigens der Terminus? Ist das etwa eine Kampfstellung?). Aber es ist halt schlimm, wenn man nicht erreichen kann, daß man im eigenen Lager besprochen wird. Also schön, über Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} will ich was Nettes schreiben. Er ist ja so ein lieber Mensch. Jammerschade, daß er uns so fremd gegenübersteht. Bitte schreibe Tinbergen\IN{\tinbergen} gleich.\fnE{Siehe oben, Brief Nr.~\refcn{1935-06-21-Neurath-an-Carnap}.} Er geht jetzt auf Ferien, will die Besprechung gerade jetzt machen,\fnEE{Tinbergen, ,,[Rezension von:] Neurath, Otto, \textit{Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?}``.} um sie dann als Bruttobesprechung mit mir Punkt für Punkt durchzuerörtern, so daß sie dann zu einer Nettobesprechung wird, in der nur drinsteht, was wirklich an Differenzen vorliegt. Eine Methode, die wir ja unter uns so oft anwenden. Er wartet auf Deinen Brief, sagte er mir. Das Wort ,,Positivismus`` habe ich nie angewendet und werde ich erst recht nicht anwenden, nachdem es Popper\IN{\popper}, zum Teil ja mit Recht, für Diskreditierungen verwendet. Zum Teil auch mit Unrecht. Logisierender Empirismus scheint für USA und Europa am besten gemeinsam zu gehn. Wissenschaftlicher Empirismus. Scientismus. PHYSIKALISMUS -- ist was Ähnliches wie MATERIALISMUS. Findest Du nicht? Hoffentlich bekommt Waismann\IN{\waismann} durch das Kind%\fnEE{Thomas Waismann.}\IN{\waismannthomas} ~einen Stimulus zum Bücherfertigmachen. Oh diese Sonderlinge! Wittgenstein\IN{\wittgenstein} hat nicht erlaubt, daß Nagel\IN{\nagel} seinen Vorlesungen lauscht! \cutcn{Kommt Gödel\IN{\goedel} über Paris, wenn er nach USA fährt? Schlick\IN{\schlick} schrieb mir schon, daß er seine beiden Reden schriftlich senden wird. Jetzt ist es \gesperrt{ganz wichtig}, daß wir Rougier\IN{\rougier} dazu bringen, daß die Referate \gesperrt{vor} dem Kongreß\II{\pariserkongress} gedruckt werden, mit kurzer Übersetzung. Es fragen viele deswegen an. Und es ist doch nicht leicht, Vorträgen in fremder Sprache zu folgen. Es geht um den Kontakt und die gemeinsame Arbeit, die wird erleichtert durch vorher drucken. Zumal man ja diesen Druck für die Akten unverändert benutzen kann. Bitte schreib mir energisch in dieser Richtung, damit ich das Rougier\IN{\rougier} sagen kann. Ich weiß ja, daß Du selbst dieser Meinung bist. Was ists übrigens mit den Akten des Prager Kongresses\IW{}. Wie ist eigentlich die Tagesordnung des Pariser zustande gekommen.\fnE{Siehe dazu unten, Brief Nr.~\refcn{1935-07-10-Carnap-an-Neurath}, Anm.~\refcn{1935-07-10-Carnap-an-Neurath-Mind}.}} Mit herzlichen Grüßen an Dich und Ina\IN{\ina}, hoffend bald von Dir wieder zu hören und nach Paris\II{\pariserkongress} mit Euch beisammen zu sein } \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/810127}{RC 029-09-36 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Prof. Rudolf Carnap\,/\,Pistyan Cyrillhof} und \original{6.~Juli 1935}. Versendet vermutlich gemeinsam mit den beiden anderen Briefen desselben Datums.}