\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 25.~Juni 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 25. Juni 1935}{Juni 1935}\labelcn{1935-06-25-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Anbei Brief an Dich, der in Durchschlag an Frank\IN{\frankphilipp} geht. Bald kommt ein ausführlicher Bericht über die Kongreßlage\II{\pariserkongress}, die ich günstig sehe. Es kommt so viel an interessanten Leuten zusammen. Daß Russell\IN{\russellkurz}, Enriques\IN{\enriques}, Abel Rey\IN{\abelrey}, Langevin\IN{\langevin} usw. im Komitee sind und zum Teil reden, ist sehr erfreulich. Ich habe, um den Titel der Brochure\IW{\neurathwirtschaftswiss} etwas zu mildern, in der Einleitung ein paar Worte darüber gesagt.\fnE{Vgl. Neurath, \textit{Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?}, Einleitung.} Ich will Neider\IN{\neider} nochmals fragen, was er meint. Seine Berichte über den Zirkel\II{\schlickzirkel} sind düster. Daß die letzten Sätze weder von Menschen noch von anderen Lebewesen verifiziert werden müßten usw. usw., war z.\,B. eine Behauptung des Gesalbten des Herrn\IN{\schlick}\IN{\wittgenstein}. Was der Herr\IN{\wittgenstein} selbst jetzt lehrt, weiß ich ja nicht.\fnE{Gemeint sind Schlick (,,der Gesalbte des Herrn``) und Wittgenstein (,,der Herr selbst``).} Schade, daß die arme Rand\IN{\rand} uns nicht die Berichte senden kann. Und daß sie\IN{\rand} erst gefragt hat \gesperrt{nach} der Arbeit. Ja, ja: Wer viel fragt, geht weit irr. Und die 30~S. müßte eigentlich Sch\editor{lick}\IN{\schlick} auf dem Altar der Gelehrtenrepublik opfern. Popperrezension\IC{\rezensionpopper}. Es ist ja nett, daß Du Poppers\IN{\popper} Anwalt spielst, aber wir hätten es eigentlich nötiger, beanwaltet zu werden. Es steht eigentlich nicht dafür, so viel darüber zu reden. Aber ich finde die Art, wie Popper\IN{\popper}, was \gesperrt{vorliegt, nicht erwähnt}, schon etwas ausgiebig, ich denke dabei gar nicht an mich. Ein Wiener, aufgewachsen in der Atmosphäre, die ich und auch Frank\IN{\frankphilipp} genau kennen, Du ja auch in erheblichem Umfang, will sozusagen als Originalgenie erscheinen. Das geht nicht. Wenn man einmal das Unglück hat, in einer so entfalteten Umgebung aufzuwachsen, ist man immer in erheblichem Maße \gesperrt{Fortsetzer}. Und ich finde es eigentlich auch pädagogisch wichtig, daß Popper\IN{\popper} das einsehen lernt, vor allem \neueseite{}\zzz auch, weil seine Polemik so deplaziert ist. Er greift immer Punkte heraus, die zum Teil längst überholt sind -- oder vereinzelt auftraten usw. Dabei kann er sich nicht damit entschuldigen, daß er die Literatur nicht zu kennen verpflichtet ist. Wenn Schlick\IN{\schlick} sonderbare Lesefrüchte von sich gibt, so kann man das auf einen durch ein leistungsreiches Leben verständlichen Dünkel zurückführen -- aber bei Popper\IN{\popper}? Ich will Poppers\IN{\popper} Einfluß ,,auf uns`` nicht übersehn. Aber -- ich sage das völlig unpolemisch -- in welcher Weise hat er Hahn\IN{\hahnhans}, Frank\IN{\frankphilipp} oder mich beeinflußt? Bei Dir mag die Abkehr von den Protokollsätzen und die Hinwendung zur Verschleierung der Protokollsätze durch Kontrollsätze durch Popper\IN{\popper} bedingt sein -- obgleich ich das nicht weiß. Aber wie sollte Popper\IN{\popper}, der doch nur mit Dir bekannt war, auf uns gewirkt haben? Meinst Du mittelbar durch Dich? Aber auch das erst sehr spät. Aber von Popper\IN{\popper} lernen -- selbstverständlich. Das ist eine andere Sache. Aber ihm bei seiner Art aggressiv zu sein, nicht antizipierend mehr Autorität geben, als unbedingt nötig ist. Während ich z.\,B. Hempel\IN{\hempel} ganz gern etwas Autorität auf Vorschuß zu geben bereit bin, weil ich bei ihm weniger Sorge habe, daß er auf philosophische Abwege geraten wird. Die Auffassung, daß man sich mit ZEICHEN beschäftigt, wenn man Mathe"-m\editor{atik} oder Logik treibt, hat mit der Millschen\IN{\mill} Auffassung \gesperrt{nichts} zu tun, wo ja die viel determinierteren ,,Dinge`` dem Zählen usw. zugrundegelegt werden, während es sich doch darum handelt, Zeichenornamente zu analysieren usw.\fnEE{Mill vertritt die Auffassung, dass die Arithmetik keine konventional-sprachliche Grundlage hat, sondern dass mathematische Sätze Fakten ausdrücken; vgl. Mill, \textit{A System of Logic, Ratiocinative and Inductive}, 253f.} Was aber nicht \gesperrt{in den Sätzen} vorkommt, sondern nur ein behavioristischer Bericht ist, wenn man fragt: was tut man, um einen anderen zu überzeugen usw. Es kommt nicht auf die spezielle Form der Protokollsätze an, wesentlich ist, daß der Name zweimal vorkommt und ein Terminus der Wahrnehmung auftritt. Also etwa: ,,Karls Protokoll, Karl formuliert sehend: Zwei Teilstriche fallen zusammen`` usw. \neueseite Petzäll\IN{\petzaell}\IW{\petzaellmethodenproblem} flüchtig durchgesehn. Natürlich Mißverständnisse, wie nicht anders möglich, da er ja nicht unseren Standpunkt teilt.\fnE{Petzäll, \textit{Zum Methodenproblem der Erkenntnisforschung}; vgl. dazu Neurath, ,,Physikalismus und Erkenntnisforschung [I]`` und ,,Physikalismus und Erkenntnisforschung [II]``. Zur dieser Diskussion zwischen Neurath und Petzäll siehe auch Uebel, ,,The Nature and Status of Metatheory``.} Er korrigiert jetzt sozusagen den Ausschlag nach der Waismannseite\IN{\waismann} in seinem Bericht,\fnEE{Petzäll, \textit{Logistischer Positivismus}.} indem er Dich und mich sehr berücksichtigt. Aber ich finde es traurig, daß er die SPALTUNG im Kreis\II{\schlickzirkel} sosehr betont, die ja doch nur am Rande liegt. Zeittabelle kriegst Du gelegentlich. Rheumatismus -- Gute Wünsche für Besserung. In Eile. Gute Grüße von allen an Euch zwei! } \grussformel{Dein\\ON} \briefanhang{\textkritikl Mieze\IN{\reidemeistermarie} dankt für Grüße u. wünscht gute Reise u. Besserung!\textkritikr\fnA{Hsl. Einschub.}}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/810563}{RC 029-09-42 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Herrn Prof. Rudolf Carnap\,/\,Prag} und \original{25.~Juni 1935}.}