\brief[Carnap an Neurath, Prag, 22.~Juni 1935]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 22. Juni 1935}{Juni 1935} \anrede{Lieber Neurath!} \haupttext{ Besten Dank für Deinen Brief v. 3.; meinen v. 2. wirst Du inzwischen bekommen haben. Zum \uline{Titel} Deiner Broschüre\IW{\neurathwirtschaftswiss} habe ich doch sehr starke Bedenken.\fnE{Neurath, \textit{Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?}} Ich möchte Dir dringend raten, ihn zu ändern. Ein unklarer Titel wirkt schlecht auf die Käufer. Und dann ist im Text das Wort ,,rational`` ja auch zweideutig gebraucht, was lieber vermieden werden sollte. Ich sage, die Begriffe ,,id\uline{i}(!)ographisch``\fnSE{Neurath schreibt in Brief Nr.~\refcn{1935-06-03-Neurath-an-Carnap} fälschlich ,,ideographisch`` (dort stillschweigend von den Hrsg. korrigiert).} und ,,nom\editor{othetisch}`` sind in Ordnung, d.\,h. diese Termini sind klar definiert. Daß man sie dann meist zu unzutreffenden (und metaphysisch beeinflußten) Behauptungen verwendet, damit hast Du wohl recht, aber das ist ja etwas anderes. \uline{Popper-Rezension}\IC{\rezensionpopper}\IN{\popper}. Ich habe mehrere Stunden daran gewendet, meine Rez\editor{en"-sion}\IC{\rezensionpopper} zu ändern. Es war eine ähnlich schwierige Aufgabe wie damals, als ich bei meinem Aufsatz ,,Prot\editor{okoll}sätze``\IC{\protokollsaetze} die größten Schwierigkeiten hatte, den Text so zu formulieren, daß sowohl Deine als P\editor{opper}s\IN{\popper} Forderungen (beide von ihrem Gesichtspunkt aus berechtigt) nach Möglichkeit erfüllt wurden.\fnE{Carnap, ,,Über Protokollsätze``; vgl. dazu oben, Brief Nr.~\refcn{1932-10-24-Carnap-an-Neurath} und \refcn{1932-10-31-Carnap-an-Neurath}.} Diesmal hab ich den Text natürlich nicht an P\editor{opper}\IN{\popper} geschickt; mußte daher beim Abwägen der Formulierungen selbst Anwalt für ihn spielen. Was seinen Einfluß auf uns betrifft, so hab ich das jetzt genauer abgegrenzt, sodaß man weiß, worauf es sich bezieht.\fnE{Carnap, ,,[Rezension von:] Popper, Karl, \textit{Logik der Forschung}``, S.\,293.} Wenn Du seinen Einfluß auf uns übersiehst, so machst Du denselben Fehler wie er in der umgekehrten Richtung, nur daß er ihn im zehnfachen Maße macht. Solltest Du in einigen Jahren mit Deiner jetzigen Prognose einer metaph\ekl{y}s\ekl{ischen} Entwicklung bei P\editor{opper}\IN{\popper} recht haben, so beachte bitte, daß ich diesmal (im Unterschied zu Schlick\IN{\schlick}, Waismanns\IN{\waismann} usw. Entwickl\editor{ung}) die Prognose nicht bestreite, sondern nur mich der Zustimmung enthalte. Es mag sein, daß es so kommt. Das sollte uns aber keinenfalls hindern, von P\editor{opper}\IN{\popper} zu lernen, was zu lernen ist. Wir haben ja auch früher viel von metaphysisch angehauchten Leuten gelernt. Ich habe immer noch den Eindruck, daß Du P\editor{opper}s\IN{\popper} Vorwurf des Psychologismus mißverstehst.\fnE{Vgl. dazu auch oben, Brief Nr.~\refcn{1935-01-28-Neurath-an-Carnap} und \refcn{1935-02-13-Carnap-an-Neurath}.} Die Verwendung von Prot\editor{okoll}sätzen zur Nachprüfung ist nicht schon Psychologismus. Durch Ausschaltung des Ps\editor{ychologismus} kommt der Empirismus keineswegs in Gefahr. Am deutlichsten ist das inbezug auf Mathematik. Da neigst Du auch (im Unterschied zu Hahn\IN{\hahnhans} \ekl{und} uns andern allen)\fnSE{Im Original: ,,\ldots\ (im Unterschied zu Hahn uns andern allen) \ldots ``} ein wenig zum Psych\editor{ologismus}. Hahn\IN{\hahnhans} hat aber immer gerade betont, daß unsere anti-Millsche\IN{\mill} Deutung der Math\editor{ematik} (die Du im großen ja auch mitmachst) den Empirismus nicht verletzt, sondern im Gegenteil stützt.\fnEE{Siehe Anm.~\refcn{1935-04-11-Carnap-an-Neurath-Hahn-Anti-Mill}.} Aber wir müssen das alles auf mündliche Unterhaltungen vertagen, glaube ich. Briefe sind immer zu kurz und daher mißverständlich; es sei denn, man schreibt viele Stunden lang. Meine Auffassung über Logik und Math\editor{ematik} liegt ja formuliert vor. Stelle auch eine deutliche Formulierung Deiner Auffassung auf! Meine Ansicht über Prot\editor{okoll}sätze ist allerdings noch nirgends deutlich formuliert. Die wichtigen Punkte werden aber zum Teil in einem engl\editor{ischen} Aufsatz\IC{\lewisaufsatz} besprochen, den ich gerade schreibe.\fnEE{Carnap, ,,Testability and Meaning``, insbesondere §§ 19--21.} Es wäre mir lieb, genauer zu hören, in welcher meiner Behauptungen Du die Gefährdung des Empirismus siehst. Ich lehne ja Prot\editor{okoll}sätze nicht ab, nur Deine spezielle Form scheint mir bedenklich. Die Gründe habe ich Erk\editor{enntnis}\II{\erkenntnis} III, 223\IC{\protokollsaetze},\fnSE{Carnap, ,,Über Protokollsätze``, 223}\fnE{Carnap, ,,Über Protokollsätze``, S.\,223.} angedeutet. \neueseite Geänderte Adressen\fnAmargin{Hsl. \original{\textsp{MR}}.} (bitte nochmal Einladungen schicken, da anscheinend nicht angekommen): Dr. Franz Roh\IN{\rohfranz}, München 8, Scheubner-Richterstr. 31. Prof. Dr. David Garcia\IN{\garciabacca}, Barcelona, Claret 47. (Dieser hat soeben ein Lehrbuch der Logistik in 2 Bden.\IW{\garciaintroduccio} in katalanischer Sprache herausgebracht).\fnE{García, \textit{Introducció a la logística}; vgl. die Anzeige in \textit{Erkenntnis} 6, 1936, S.\,272.} Hast Du \uline{Petzälls}\IN{\petzaell} neue Broschüre\IW{\petzaellmethodenproblem} gelesen.\fnEE{Petzäll, \textit{Zum Methodenproblem der Erkenntnisforschung}.} Arge Mißverständnisse. Bei Dir noch leidlich (viell\editor{eicht} weil Du Gelegenheit hattest, mit ihm zu sprechen), bei mir ziemlich schlimm. Oder bin ich da ein zu scharfer Richter, weil es mich selbst betrifft? Feigl\IN{\feigl} und Popper\IN{\popper} wollen auf dem Kongreß\II{\pariserkongress} vortragen. Ich nehme an, daß sie Dir selbst geschrieben haben. Ich glaube, Du hast noch meine Zeittabelle?\fnE{Siehe oben, Brief Nr.~\refcn{1935-05-15-Carnap-an-Neurath}} Bitte vergiß nicht gelegentliche Rücksendung. Die \uline{Rand}\IN{\rand} hatte mir spontan geschrieben, sie könne mir Bericht über Winterzirkel ausarbeiten, Diskussionen üb\editor{er} Wittg\editor{enstein}\IN{\wittgenstein} mit Originalzitaten aus dem im Zirkel\II{\schlickzirkel} Vorgelesenen. Ich bestellte es, mit Durchschlägen für Dich und Hempel\IN{\hempel}. Jetzt schreibt sie, Schlick\IN{\schlick} habe es ihr nicht erlaubt, und zwar, nachdem sie es jetzt schon fertig gemacht hatte. (Auch ein Exempel zu Deinem Rat neulich: wer viel fragt, kriegt viel Antwort.) Ich hatte ihr 30 S. dafür zugedacht. Ob Schlick\IN{\schlick} ihr die ersetzen wird? Die Krankenkasse hat mir für meinen Schulter-Rheumatismus 3 Wochen Kur in Pistyan bewilligt. Wir fahren etwa 26. ab, viell\editor{eicht} erst 2 Tage Wien. Briefe werden mir nachgeschickt (nicht nach Wien). Mit herzlichen Grüßen, auch an Olga\IN{\neuratholga} und Mieze\IN{\reidemeistermarie}, } \grussformel{Dein\\Carnap} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/810675}{ON 220 (Dsl. RC 029-09-44)}; Briefkopf: gedr. \original{Prof. Dr.~Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.\,/\,Pod Homolkou 146}, msl. \original{Prag, den 22.~Juni 1935}.}