\brief{Otto Neurath an Felix Kaufmann, Kopie an Carnap, 21. Juni 1935}{Juni 1935} \anrede{Lieber Dr. Kaufmann!} \haupttext{ Vielen Dank für lieben Brief. Antworte bald ordentlich. Heute nur etwas zum Manuskript. Es ist lieb, daß Sie dem Physikalismus so viel Zeit widmen. Schade, daß so viele Mißverständnisse unterlaufen. Carnap und Hempel werden ja genug darüber schreiben. Ich will nur meine spezielle Art der Formulierung vertreten. Ich schicke Ihnen bald meine bereits im Druck befindliche kleine Sache „Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?“ Das ist natürlich durchaus physikalistisch -- aber ich kann mir nicht gut denken, daß Sie mit anderen Methoden mehr leisten könnten. Ich bin überhaupt gespannt, wie Sie zeigen werden, daß es in den Sozialwissenschaften andere Methoden gibt und daß man mit dem Physikalismus nicht durchkommt. Ich persönlich verwende die Termini „subjektiv“ „objektiv“ nicht, auch nicht Sätze, wie Sie das tun, die Beziehung von Satz und Phänomen behandeln. Ich selbst habe \gesperrt{niemals} Atomsätze gehabt (S. 3), so daß ich sie nicht aufgeben konnte. Im Gegenteil ich betone \gesperrt{immer}, daß die Ausgangsätze, mit denen ich zu operieren vorschlage, derbe, volle Sätze sind, die fern von allem sind, was zu „reiner Gegebenheit“ und dergleichen gehört. Ich verfahre so: Sätze wie: Karls Protokoll, Karl formuliert, Karl ist sehend, Im Zimmer ist ein runder Tisch, (alles mit Zeitbestimmung) sind die Ausgangs- und die Kontrollposition. Alle Feinheiten müssen sich, wie ich meine, mit solchen Sätzen ausdrücken lassen. Z.\,B. Karls Protokoll, Karl sehend 5 Uhr 6 Minuten 3 Sekunden auf der Laboratoriumsuhr. Die Zeiterstellung ist präzise Ziffer, aber Karl sehend, usw., Ortskoordinaten, Zeitkoordinaten im ganzen sind recht roh und nicht verfeinert („Ballung“). IM ANFANG DER DISKUSSION, SCHLAGE ICH VOR, STEHT DIE BALLUNG und am Ende auch. Also mich trifft als einen Hauptvertreter des Physikalismus nicht, was Sie kritisches vorbringen. Es gilt am ehesten für manche Randäußerungen von Schlick. Vielleicht. Auch Schlick scheint die Atomsätze nicht mehr zu lieben und die „Konstatierungen“ sind nur ein schwacher Abglanz alter Herrlichkeit. Aber bei Carnap, Hempel ist doch davon kaum mehr was übrig. Ich fürchte, viele Ihrer Bemerkungen zu Carnaps neuer Formulierung gehen fehl und entstammen dem Umstand, daß Carnap in seiner üblichen konzilianten Art, die „psychologische Sprache“ fingiert und nun zeigt, wie die Sätze dieser Sprache mit denen der physikalischen empirisch äquipollent sind. Sollte das Mißverständnis, daß er damit den psychophys\editor{ischen} Parallelismus im alten Sinne zugestehe, entstehen, würde ich die Formulierung bedauern. Ich bin, wie Sie wissen, im Formulieren hartnäckiger und erwarte nichts von der Konzilianz. Ich rede etwa so: (Aber ich meine, durchaus im Sinne mit Carnap und Hempel einig) \medskip \noindent Der Satz: Karls Protokoll : Karl formuliert : Karl sieht : Im Zimmer runder Tisch. \noindent und:\hspace{7 mm} Karls Protokoll : Karl formuliert : Karl tastet : Im Zimmer runder Tisch. \medskip \noindent sind beides Sätze, in denen der Ausschnitt : Im Zimmer runder Tisch vorkommt. Man könnte nun sagen, im ersten Fall Im Zimmer runder Tisch (Index Sehn) und im zweiten Im Zimmer runder Tisch (Index Tasten) sind empirisch äquipollent. Und dann analog: %\begin{tabularx}{\textwidth}{p{0.19\textwidth}p{0.19\textwidth}p{0.27\textwidth}p{0.25\textwidth}} \medskip \noindent Karls Protokoll : Karl formuliert : Karl spürt : Karl ist schläfrig. \noindent Karls Protokoll : Karl Formuliert : Karl sieht im Spiegel : Karl ist schläfrig. %\end{tabularx} \medskip Beide Sätze Karl ist schläfrig (Index Spürend) und Karl ist schläfrig (Index Sehn) sind empirisch äquipollent.\blockade{Klammern ergänzt - Anführungszeichen?? auch im Folgenden} \gesperrt{Aber} -- und das ist der springende Punkt: \gesperrt{beide} Sätze sind in physikalischer Sprache verfasst. Ob es gut ist, das alles mithilfe der Äquipollenz zu erörtern, will ich dahingestellt sein lassen. Denn daß ich zweimal von Karl rede, beinhaltet eine empirische Äquipollenzbehauptung. Das heißt ringsum ist Äquipollenz, nicht etwa nur an der von Ihnen so freudig begrüßten Schnittstelle. Ich habe keinen Anlaß, gewisse physikalistische Sätze -- „psychologische“ -- zu nennen, anders dagegen anders. Also. Der radikale Physikalismus, der redet, wie ihm sein Schnabel gewachsen ist, verfährt so: \gesperrt{Alle Sätze werden physikalistisch formuliert}. Karl ist schmerzlich berührt ist ebenso physikalistisch, wie Karl ist drei Meter hoch, oder Karl steht auf dem Kopf, oder Karl spricht Sätze aus oder Karl formuliert zu sich selbst. (Er meditiert).\blockade{Kommata???} Und damit zu einem für Ihre Argumentation wichtigen Punkt. Der physikalistische Satz: „Bevor Napoleon die Schlacht begann, sagte er zu sich: ich will das so und so machen“ kann sogar noch übertroffen werden durch den Satz: „Als Napoleon nach einem tiefen, wie er notierte, traumlosen Schlaf erwachte, operierte er sofort so, als ob er die ganze Nacht Pläne formuliert hätte“ („Unbewußtes Denken“ -- durchaus physikalistischer Terminus, wenn so wie angedeutet definiert).\fnA{Schließende Klammer ergänzt.} Und dabei die Hoffnung mithilfe des Gehirnfilmapparats die Bläuungen des napoleonischen Hirns während des Schlafes zu beobachten, Bläuungen, wie wir sie \sout{so}sonst als charakteristisch kennen, wenn Leute auf Fragen antworten -- bewußte Antworten geben. Das heißt der Satz: Bei Napoleon bläuts im Gehirn. Und der Satz bei Napoleon bereitet sich bedeutsamer Plan vor waren empirisch äquipollent. ABER BEIDE SÄTZE SIND PHYSIKALISTISCHE. Das ist der springende Punkt. Was Sie über Entseelung sagen, geht glaube ich daneben. Unbelebte und belebte Dinge kann man unterscheiden, wo man die Grenze jeweils zeiht, ändert sich. Würden wir feststellen, daß Stühle auf freundliches Zureden hin sich in Bewegung setzen, sich vor warnenden Worten verkriechen, wir würden versuchen, vieles, was sonst an Stühlen geschieht, biologisch zu deuten z.\,B. wenn einem der Stuhl auf den Fuß fällt, das damit in Verbindung bringen, daß man ihn gestern achtlos beiseite gestellt hat ohne „Danke schön“ zu sagen. Ich habe in meiner EMPIRISCHEN SOZIOLOGIE übrigens ausführlich zu zeigen gesucht, daß die Urformen der Magischen Sätze am ähnlichsten sind den physikalistischen Sätzen, und nur die transcendenten Sätze der Theologie uns fremd. Von den Phänomenologen meinen wir, daß sie neben Sätzen der Wissenschaftslogik und den Realsätzen noch ein Drittes Reich haben, das wir das metaphysische nennen, das „fremde“ Reich, oder wie der liebenswürdige Reach sagt: „isolierte“ Sätze. Würden sie nur Beseelungsartiges tradieren, wärs veraltete magische Quasiwissenschaft, aber nicht Metaphysik. Ich glaube, Sie treffen meinen Physikalismus gar nicht, wenn sie sagen, daß das Denken des Nebenmenschen nicht vorkommt. „Franz formuliert, Franz ist müde“ gerade das ist die physikalistische Formulierung dafür. (S. 5) Sie sehen, in diesem Punkt bin ich sehr tolerant. Wenn wir einmal \gesperrt{innerhalb} des Physikalismus sind, können Sie so viel sagen, als Ihnen Spaß macht. Nur wenn der Terminus „Fremdpsychischen“ oder „Eigenspychisches“ vorkommt, werde ich unruhig, da wir ja höchstens \gesperrt{Sätze} haben, die durch ihre \gesperrt{Termini} Anlaß geben, zu sagen, man wolle sie -- recht schlampig abgegrenzt -- zu den „psychologischen“ Sätzen rechnen, das sind \gesperrt{physikalistische Sätze in der physikalistischen Sprache}, die man um besonderer Eigenarten willen, psychologische Sätze nennt! Daß ich nicht gut von verschiedenen Methoden in Soziologie und Geologie reden kann, sehen Sie aus meiner EMPIRISCHEN SOZIOLOGIE. Ich würde Soziologische Gesetze mit geologischen oder meteorologischen Gesetzen analogisieren, nicht mit mechanischen oder chemischen\ldots{} Das habe ich dort breit ausgeführt. Ich bin sehr gespannt auf Ihr Buch und freue mich, daß Sie die freundschaftlichen Beziehungen so schön aufrecht erhalten. Mit besten Grüßen an Sie und Ihre Frau Ihr } \ebericht{Brief, msl. Dsl., \href{https://doi.org/10.48666/810809}{RC 029-09-46}; Briefkopf: hsl. \original{Carnap}, msl. \original{Dr. Felix Kaufmann Wien} und \original{21. Juni 1935}; Unterschrift fehlt.}