\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 21.~Juni 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 21. Juni 1935}{Juni 1935}\labelcn{1935-06-21-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Anbei meine Antwort an unseren lieben Kaufmann\IN{\kaufmannfelix}.\fnSE{Otto Neurath an Felix Kaufmann, 21.~Juni 1935 (\href{https://doi.org/10.48666/810809}{RC 029-09-46}). Der Brief enthält eine Entgegnung auf Kaufmanns Kritik am Physikalismus in dessen \textit{Methodenlehre der Sozialwissenschaften}; zur hier dargelegten Auffassung der Protokollsätze siehe auch Uebel, \textit{Empiricism at the Crossroads}, 379f.}\fnE{Neurath an Kaufmann, 21.~Juni 1935, (\href{https://doi.org/10.48666/810809}{RC 029-09-46}). Das Schreiben enthält vor allem eine Entgegnung auf Kaufmanns Kritik am Physikalismus in seiner \textit{Methodenlehre der Sozialwissenschaften}. Den entsprechenden Teil des Manuskripts (ON 387/R.34-1) hatte Neurath von Carnap erhalten; vgl. Rudolf Carnap an Felix Kaufmann, 7.~Juni 1935 (\href{https://doi.org/10.48666/869994}{RC~028-20-03}). Zu Neuraths Brief und seiner dort dargelegten Auffassung der Protokollsätze siehe auch Uebel, \textit{Empiricism at the Crossroads}, 379f.} Ich sehe, daß Deine konziliante Art doch ihre Bedenken hat. Indem Du von ,,psychologischer`` Sprache sprichst, erweckst Du falsche Hoffnungen. Ich habe seinerzeit dagegen nicht protestiert, weil ich es für möglich hielt, daß Du so jemandem unsere Sache näher bringst. Ich bin aber doch mehr dafür, immer für die \gesperrt{eine} physikalistische Sprache zu plädieren und zu leugnen, daß es eine wirklich ausgebildete psychologische Sprache gibt. Ein paar Fetzen, inkonsistent und inkohärent. So meine ich. Was meinst Du? Wir haben eine Fülle von Vorträgen beisammen, so gegen 40. Ich weiß noch gar nicht, wie unterbringen. Ich habe ein ganzes Puzzle-Spiel eingerichtet und schiebe herum. Daß Russell\IN{\russellkurz} kommt, ist natürlich eine wunderbare Sache, zumal er die Kongresse nicht leiden kann. Jetzt hab ich ihm einen schmelzenden Brief geschrieben, damit er auch redet. Über die Sätze schreibe ich nächstens.\fnE{Gemeint sind möglicherweise Protokollsätze (,,P-Sätze``).} Ich schätze Russell\IN{\russellkurz} sehr, aber ich glaube, Deine ,,Generation`` hat mehr von ihm gelernt als meine, damals war erst wenig zugänglich. Ich wußte nur so etwas über seine logischen Sachen. Erinnere mich, in Berlin über Typenlehre gesprochen zu haben. Aber wissenschaftslogisch kommen wir absolut von den Franzosen her. Frag übrigens mal Frank\IN{\frankphilipp}, wies bei dem war. Die Amerikaner haben wieder von den Franzosen wenig Eindrücke empfangen.\fnE{Siehe die Diskussion über Neurath, \textit{Le développement du Cercle de Vienne et l'avenir de l'Empirisme logique}, oben, Brief Nr.~\refcn{1935-05-15-Carnap-an-Neurath} und \refcn{1935-05-18-Neurath-an-Carnap-a}.} Daß Schlick\IN{\schlick} sich oberflächlich benimmt, ist klar -- ein Ergebnis seines Dünkels. Er glaubt, daß er alles von vornherein weiß, nicht nur besser weiß (das sowieso, auch wenn er etwas noch gar nicht aufgenommen hat). Wie sehr man zu Mißverständnissen Anlaß gibt, zeigt Kaufmanns\IN{\kaufmannfelix} Auffassung Deiner Ausführungen, wobei er betont, wie klar Du formulierst.\fnE{Vgl. die Auseinandersetzung mit dem Physikalismus in Kaufmann, \textit{Methodenlehre der Sozialwissenschaften}, 136--144; S.\,141 ist von Carnaps ,,mustergültigen Klarheit`` die Rede.} Wenn jemand nicht schon im ganzen mit einem einig geht, ist überhaupt wenig zu erwarten. Ob man nun so oder so formuliert. Und daß Du Schlick\IN{\schlick} darunter begreifst, ,,wie Gegner einmal sind``\fnE{Oben, Brief Nr.~\refcn{1935-06-02-Carnap-an-Neurath}.} -- ist jedenfalls putzig, denn eigentlich ist er doch unser Nährvater. Er hat doch immer gepredigt, daß alles Lyrik ist, was nicht Wissenschaft ist, und daß über das Denken selbst philosophieren Metaphysik -- usw.\fnE{Zur Qualifzierung von Schlick'schen Formulierungen als Lyrik vgl. Neurath, ,,Radikaler Physikalismus und ,Wirkliche Welt`\grqq, 362\,/\,GphmS 623.} \neueseite Nun aber zu PHYSIKALISMUS. Gerade weil ich weiß, daß man eine Anschauungsweise nur durch viele Elemente kennzeichnen kann, definiere ich den Physikalismus als Anschauungsweise, wie etwa den PRAGMATISMUS, oder den MATERIALISMUS, oder den EPIKUREISMUS oder den MARXISMUS usw. Und es kommt nun darauf an, sich darüber zu einigen, was man alles dazu rechnet. Aber \gesperrt{ein} Element mit dem Namen zu versehen wäre verfehlt, solange wir nicht für jedes Element ein Zeichen haben, und dann eine Anschauung $A_4R_6S$ oder $A_2SP_5W_6$ usw. nennen können. Ich würde es \gesperrt{nicht} vorziehen, von uns zu sagen, daß wir die These und die und die und die usw. vertreten, sondern, wies immer üblich war und wohl noch lange üblich sein wird: NAME kennzeichnet eine Richtung. Ich rechne z.\,B. \gesperrt{wesentlich} zum Physikalismus, daß man nicht davon spricht, den logischen Gehalt eines Satzes mit der Wirklichkeit zu vergleichen usw. Ob man alles genau angeben kann, was zu einer Anschauung zählt oder nicht, ist nicht so wichtig, als daß im ganzen klar ist, was der so geschaffene \gesperrt{Block} bedeutet. In der Welt gibts nicht gar so viel Blöcke. Ich würde also von der Gesamthaltung des PHYSIKALISMUS sprechen. Empfehle Dir das gleiche zu tun. Natürlich steht Schlick\IN{\schlick} dem Physikalismus nahe, aber seine ,,Konstatierungen`` gehören kaum in ein physikalistisches Anschauungsgebäude hinein, aber auch vieles andere nicht. Wenn jemand etwa sagt: Man kann die ganze Wirklichkeit in der physikalistischen Sprache abbilden, nenne ich ihn keinen Physikalisten. Denn dieser Terminus ,,Wirklichkeit`` ist kein physikalistischer Terminus. Nur wer so schreibt, daß man alles, was er sagt, physikalistisch sagen kann, wäre ein Physikalist. Ich hoffe, daß Dir diese Haltung plausibel ist. Malisoff\IN{\malisoff} schrieb mir schon. Was ist übrigens damals aus Deiner Anregung geworden, daß Frank\IN{\frankphilipp} und ich auch an seiner Zeitschrift\II{} als Mitwirkende zu nennen seien? Ogden\IN{\ogden} hatte ich in Prag vorgeschlagen, er stand schon auf der Tafel, wurde aber wieder gelöscht, ich glaube fast nach einer kleinen Debatte. Aber man kann ihn wieder hineinnehmen. Wie ists eigentlich mit der Stebbing\IN{\stebbing}. Gehört die genügend zu uns? Kann die ins große Komitee genommen werden? Sie ist halt so viel nett mit mir, wenn ich sie was frag, und betreut den Kongreß wirklich. Malisoff\IN{\malisoff} wird mich wohl vor der Reise nach Moskau aufsuchen. ISOTYPE -- ist das Wort für unsere Bilderschrift, wir sind froh, daß wirs haben, Reidemeister\IN{\reidemeistermarie} hat es sozusagen systematisch erarbeitet: I-nternational S-ystem O-f TY-pographic P-icture E-ducation. Und es bedeutet sonst ,,gleiche Typen verwendend``, was wir nämlich tun. Ich hoffe, damit in der Logik keine Verwirrung anzurichten. Ein Professor der PONTIFICA UNIVERSITA GREGORIANA in Rom will über Induktion sprechen. Was weißt Du über ihn. Oder Frank\IN{\frankphilipp}? Ist das ein Theologe, wenn er von dort kommt, er heißt: \gesperrt{PAUL SIWEK}\IN{\siwek}. Hinter seinem Namen ist so ein Krigel Kragel, das SJ\fnEE{\glqq SJ\grqq\ ist das Kürzel für den Orden der Jesuiten (Societas Jesu).} heißen könnte. } Mit guten Grüßen von Haus zu Haus \grussformel{Dein\\ON} \cutcn{\briefanhang{\noindent In BESPRECHUNGSANGELEGENHEITEN: \begin{enumerate} \item EMPIRISCHE SOZIOLOGIE! \item Bitte schreibe an Prof. Dr. J\ekl{an} Tinbergen\IN{\tinbergen} (ein Vertreter mathem\editor{atischer} Nationalökonomie, Konjunkturforschung, der sich bereit erklärt hat, mein Büchlein\IW{\neurathwirtschaftswiss} bei Gerold\II{\gerold} in der ERKENNTNIS\II{\erkenntnis} zu besprechen) etwa so: Es freue Dich, daß er mein Buch ,,WAS BEDEUTET RATIONALE WIRTSCHAFTSBETRACHTUNG?{}``\IW{\neurathwirtschaftswiss} in der ERKENNTNIS\II{\erkenntnis} besprechen wolle, und Du bittest ihn, sobald er es erhalte, eine Besprechung zu senden, die vor allem die theoretische Seite würdigt und die Schlüssigkeit der Argumentation, Verwandtschaft oder Gegnerschaft mit anderen behandelt. ADRESSE: DEN HAAG. TESSELSCHESTR. 39. Er las mein Manuskript\IW{\neurathwirtschaftswiss} genau durch und kennt auch meine sonstigen Arbeiten. \item Wenn jetzt Heft 4, 5 der ,,EINHEITSWISSENSCHAFT``\II{\einheitswissenschaftschriftenreihe} kommen, laß vielleicht durch Frank\IN{\frankphilipp} oder unseren Freund Carnap\incarnap{}, der ja ohnehin Mitherausgeber ist, in der ERKENNTNIS\II{\erkenntnis} die Sammlung\II{\einheitswissenschaftschriftenreihe} als solche besprechen, da bisher keines der Hefte besprochen wurde. Ich würde darauf Wert legen, daß wenigstens die Sammlung\II{\einheitswissenschaftschriftenreihe} als solche einmal ,,gewürdigt`` wird, sonst glauben die Menschen gar, daß man mit der Erkenntnis\II{\erkenntnis} wegen dieser Sammlung\II{\einheitswissenschaftschriftenreihe} auf gespanntem Fuß stehe.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Unsinn (Schlicksammlung\II{\schriftenwisswelt} ist auch nur als solche besprochen worden).}}} \item Ich würde sehr gerne eine nette Besprechung über Kaufmanns\IN{\kaufmannfelix} Buch\IW{\kaufmannmethodensoz} schreiben, sobald es erschienen ist.\fnE{Kaufmann, \textit{Methodenlehre der Sozialwissenschaften}; eine Rezension Neuraths ist nicht erschienen.} Vielleicht kann ich da einige andere Neuerscheinungen ähnlichen Gegenstandes mitbehandeln. Da kommt Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} übrigens von unserem Standpunkt aus sicher gut weg, weil er doch uns weit näher steht, als was da sonst herumfleucht. \end{enumerate} }}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl. 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/810749}{RC 029-09-45 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Prof. R.~Carnap\,/\,Prag} und \original{21.~Juni 1935}.}