\brief{Karl Popper an Rudolf Carnap, 10. Juni 1935}{Juni 1935} %\{10.6.35\} \anrede{Lieber Herr Professor,} \haupttext{für Ihren Brief sehr, sehr herzlichen Dank! Er traf mich in einem Zeitpunkt schlechtester Stimmung (Schule\ldots{}!) und hat mich aus dieser Stimmung herausgerissen! Ich bin Ihnen auch noch Dank schuldig für die Zusendung des ,,Gültigkeitskriteriums``\IC{\gueltigkeitskriterium} und des Prager\II{\kongressphilosophieprag} Vortrages\IC{}. Insbesondere das ,,Gültigkeitskriterium``\IC{\gueltigkeitskriterium} habe ich mit allergrößter Spannung gelesen. Wieder finde ich es, ebenso wie bei den Antinomien\IC{\msantinomien}, sehr schade, daß Sie diesen hochinteressanten Abschnitt aus der ,,Syntax``\IC{\logischesyntax} streichen mußten. Erst durch diese Arbeit\IC{\gueltigkeitskriterium} ist mir klar geworden, worin -- wenigstens glaube ich es -- die logische Hauptleistung der Syntax\IC{\logischesyntax} liegt: In der Einführung der f-Begriffe und der Untersuchung ihres Verhältnisses zu den a-Begriffen. Das ist -- soviel ich weiß -- nicht nur eine wirkliche Neuerung, sondern auch eine fruchtbare Neuerung. Wichtig vor allem, weil sie zeigt, daß fundamentale Begriffe der alten Logik (Folge) in der bisherigen Logistik nicht hinreichend erfaßt wurden, daß sie aber erfaßt und präzisiert werden können. Ich habe, wie anscheinend viele andere, gegenüber der Logistik immer ein Gefühl gehabt, daß hier eine gewisse Lücke vorliegt; dieses Gefühl ist nun geschwunden. Ich habe den Eindruck eines gewaltigen Fortschrittes. -- Ich habe in der letzten Zeit meine Gedanken über die Quantenmechanik\IW{} näher ausgearbeitet. Ich lege diese Arbeit bei. Sie ist \uline{sehr} leicht zu lesen und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sie 1.) lesen, 2.) ev[entuell] in Ihrer Rezension berichtigen, 3.) mir raten wollten, wo ich sie veröffentlichen kann. Ich glaube durch diese Arbeit einiges wirklich endgültig aufgeklärt zu haben. Das erkenntnistheoretisch Interessanteste steht in Punkt F; \uline{zumindest} diesen Punkt sollten Sie sicher lesen. (Ehrenhaft\IN{\ehrenhaft} hat diese Arbeit\IW{} an Einstein\IN{\einstein} geschickt; ich schicke sie an Heisenberg\IN{\heisenberg}, Schrödinger\IN{\schroedinger}, Bohr\IN{\bohr}.) Auf Ihre Rezension freue ich mich sehr. Selbstverständlich habe ich nicht das allermindeste dagegen, wenn ein abweichender Standpunkt geltend gemacht wird. Damit komme ich zu Reichenbachs\IN{\reichenbach} Auslassungen\IW{}, für deren Zusendung ich herzlichst danke. Diese sind natürlich nicht ernst zu nehmen. Ich habe mich über sie gar nicht geärgert, weil ich glaube, daß (a) jeder, der mein Buch\IW{\popperldf} kennt, zumindest \uline{eines} merken muß: daß die Polemik keine rein sachliche ist, (b) der, der mein Buch\IW{\popperldf} nicht kennt, einigermaßen mißtrauisch werden muß, daß Reichenbach\IN{\reichenbach} einem so schlechten Buch 16 Erkenntnisseiten\II{\erkenntnis} widmet! Sachlich ist nicht sehr viel zu sagen. Immerhin möchte ich drei Punkte erwähnen 1.) Zur ,,logischen Wahrscheinlichkeit`` (Reichenbach\IN{\reichenbach}, Punkt III): R[eichenbach] scheint überhaupt nicht das Besondere meiner Bewertung von Theorien bemerkt zu haben; die (logisch) unwahrscheinlicheren (= besser prüfbaren) werden \uline{bei mir höher} bewertet als die wahrscheinlichen, nicht nur beim Aufstellen (vgl. mein Buch\IW{\popperldf}, Abschnitt 31-43), sondern auch nach ihrer Prüfung (Bewährungswert, vgl. Abschnitt 83), \uline{bei ihm niedriger}; und das, obwohl R[eichenbach]s\IN{\reichenbach} Ungleichung (vgl. Reichenbach\IN{\reichenbach} Punkt III und mein Buch\IW{\popperldf} S.\,153) \begin{center}$W(O,P.Q) = W(O,P)$\end{center} wie er selbst sieht, jedenfalls zur Folge hat, daß \uline{meine} ,,logische Wahrscheinlichkeit`` und \uline{seine} ,,Wahrscheinlichkeit`` \uline{gleichsinnig} verlaufen. (Bei gleichsinnig definierten Begriffen entgegenlaufende Bewertung!) 2.) Zur Begründung der Wa[hrscheinlichkeits]-Rechnung (Reichenbach\IN{\reichenbach} Punkt V): ,,Die logische Ordnung, die man (!) für den Aufbau der Wahrscheinlichkeitsrechnung benutzen muß (!), wird dabei vollständig verkannt \ldots{}`` usw. (Auch in Hempels\IN{\hempel} Dissertation\IW{\hempeldiss} (die mir erst kürzlich bekannt wurde) findet \neueseite{} sich die Ansicht, daß Reichenbachs\IN{\reichenbach} ,,\uline{formale}`` Wa[hrscheinlichkeits]-Axiomatik einen Fortschritt gegenüber v. Mises\IN{\mises} ,,inhaltlicher`` Wa[hrscheinlichkeits]-Axiomatik bedeutet). Ich habe, um eine Polemik zu sparen, diese Auffassung Reichenbachs\IN{\reichenbach} in meinem Buch\IW{\popperldf} nicht widerlegt; sie ist aber ganz unbegründet. Denn R[eichenbach]\IN{\reichenbach} kann nur für jenen Teil der Axiomatik einen Widerspruchslosigkeitsbeweis führen, für den dieser trivial ist (inhaltlich; für die allgemeine Theorie von Häufigkeitslimites \uline{ohne} Ordnungsaxiome, also auch ohne Bernoullisches\IN{\bernoulli} Theorem). Interessant ist jedoch \uline{nur} die Theorie der das Bernoullische\IN{\bernoulli} Theorem befriedigenden Folgen, die R[eichenbach]\IN{\reichenbach} ,,normal`` nennt. Denn obwohl R[eichenbach]\IN{\reichenbach} immer wieder betont, daß auch andere als ,,normale`` Folgen in der Physik eine Rolle spielen, so setzt doch gerade die Theorie dieser Folgen (mit Nachwirkung) die der ,,normalen`` \uline{voraus}. Ich halte daher R[eichenbach]s\IN{\reichenbach} Aufbau für wenig durchsichtig und unpraktisch. (Das sind nur kurze Andeutungen). R[eichenbach]\IN{\reichenbach} berücksichtigt nicht die von mir erzielten Wa[hrscheinlichkeits]-Fortschritte: daß ich als erster nachwirkungsfreie Folgen konstruiere, daß ich die Identität (die er leugnet) dieser mit den ,,normalen`` beweise, usw. Zusammenfassend habe ich (dieser Meinung ist z.\,B. auch Menger\IN{\menger}, in dessen Kolloquium\II{\mengerscolloquium} ich referierte) als erster eine Häufigkeits-Axiomatik geliefert, die (beweisbar) so wenig als möglich verlangt (da nämlich ihre formale Äquivalenz mit der klassischen Wa[hrscheinlichkeits]-Theorie für 2 Merkmale \uline{beweisbar} ist) und die Widerspruchsfreiheit dieser Axiomatik nachgewiesen. Was R[eichenbachs]s\IN{\reichenbach} Meinung ist (Schluß von V) -- er vertritt sie widerholt, zuletzt in seinem Buch\IW{\reichenbachwahrscheinlichkeit} -- daß die Existenz eines limes aus viel weniger besagenden Forderungen mit Hilfe des ,,verschärften Bernoullischen`` (= Polyaschen) Theorems \uline{ableitbar} ist, so befindet er sich hier (seit 6 Jahren) in einem ganz merkwürdigen Irrtum, der leicht aufgeklärt werden kann (er hängt damit zusammen, daß R[eichenbach]s\IN{\reichenbach} Begriff einer ,,gegen 1 konvergenten Wahrscheinlichkeit``, so wie er ihn anwendet, zu Widersprüchen führt); ich gehe besser hier nicht näher darauf ein, da dieser Brief sehr lang zu werden beginnt! 3.) R[eichenbach]\IN{\reichenbach} hat früher \uline{niemals} gesagt, \uline{wie} er sich die Hypothesen als ,,Satzfolgen`` vorstellt. Seine Ausführungen in IV übernehmen einfach (ohne das zu sagen) \uline{meine} Analyse (Buch\IW{\popperldf}, S.\,191 f). Sie kommen aber gegen die dort entwickeltem Einwände nicht auf, sodaß ich eigentlich nichts zu ergänzen habe. (Ähnliches gilt für seine Ausführungen in III., S.7)\fnC{Was Ihren Vorschlag betrifft, einen Artikel zu schreiben und indirekt oder nebenbei zu antworten, so ist diese Form in der Tat die einzige, die in Frage kommt. Ich bin aber nicht ganz sicher, ob ich das schnell genug zusammenbringen werde, daß der Artikel in Heft 5 erscheinen kann. Aber ich werde mich beeilen! Danke für den Rat!} Nun zum Pariser Kongreß\II{\pariserkongress}! Ich möchte \uline{sehr} gern nach Paris kommen und habe sogar schon um Urlaub (sogar um einen längeren, siehe unten) gegen Karenz der Gebühren angemeldet, um das möglich zu machen. Kann ich durch Sie ein Referat\IW{} anmelden? Ich habe das Programm bereits zugeschickt bekommen; danach würden, soviel ich sehe, folgende Themen für mich in Frage kommen: (1) \uline{18.\,September, vormittag}: (a) Induktion (ev[entuell] Koreferat zu Reichenbach); (b) Über die Prüfbarkeit von Wahrscheinlichkeitsaussagen (dazu habe ich allerlei neues); \uline{nachmittag} (c) Kausalität und Quantenmechanik (vgl. die beigelegte Arbeit, Punkt F). (2) Das letzte Thema könnte unter dem Titel: ,,logische Analyse des sogenannten Kausalproblems`` ev[entuell] auch am 17.\,Sept., vormittag, oder auch am 16.\,Sept. nachmittag untergebracht werden. (3) Ev[entuell] auch am 16.\,Sept.: Falsifizierbarkeit als Kriterium der empirischen Theorien. \neueseite{} Das Thema (1), c wäre für mich am interessantesten (ich habe es, nebenbei bemerkt, schon in Prag bei Neurath\IN{\neurath} angemeldet). Bitte, schrieben Sie, was Sie von den Themen denken. Wie oben angedeutet, habe ich für das nächste Schuljahr um einen Urlaub angesucht, da ich (unter Verwendung von etwas erspartem und etwas erborgtem Geld) \uline{arbeiten} will, was ich neben der Schule nicht kann. Ich hätte, wie Sie sich denken können, gern ein Stipendium bekommen, aber wie? Ich hoffe also sicher, Sie spätestens in Paris zu sehen. Falls Sie vorher nach Wien kommen, verständigen Sie mich doch? Was wir im Sommer machen, ist noch ganz ungewiß; falls Sie Lust dazu haben, würden wir Sie sehr gern irgendwo heimsuchen! Die herzlichsten Grüße an Ina\IN{\ina} ($2 \rightarrow 2$) und nochmals sehr herzlichen Dank für Ihren lieben Brief} \grussformel{Ihr\\ Karl Popper} \briefanhang{10.\,Juni 1935.} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/871838}{RC 102-59-41}.}