\brief{Felix Kaufmann an Rudolf Carnap, 7. Juni 1935}{Juni 1935} %7.Juni 1935. \anrede{Lieber Herr Carnap!} \haupttext{Sie dürfen mir nicht böse sein, daß ich die Antwort auf Ihre Bemerkungen zu meinem Manuskript\IW{} so lange verzögert und Ihnen noch nicht einmal für die Übersendung Ihrer Separata gedankt habe. Ich habe nämlich die Frist bis zu dem Zeitpunkt, wo ich im Zuge der Generalrevision meines M.S.\IW{} zu einer neuerlichen Überprüfung meiner Ausführungen über den Physikalismus kommen werde, bedeutend unterschätzt und darum die Antwort immer wieder hinausgeschoben. Nun aber ist es so weit und ich übermittle Ihnen mit gleicher Post die neue Fassung. Aus ihr werden Sie entnehmen, daß ich den zentralen, die behaviouristische Grundauffassung analysierenden Teil völlig umgearbeitet habe. Dies ist nicht etwa darum geschehen, weil ich meine prinzipielle Stellungnahme geändert hätte, sondern aus folgenden zwei Gründen: Erstens wollte ich Ihren Anmerkungen Rechnung tragen und meine Einwände so weit als möglich in derjenigen Sprache vorbringen, die Sie selbst sprechen und die Ihnen auch besser ins Ohr geht und zweitens mußte ich mich nunmehr auch mit derjenigen Argumentation auseinandersetzen, die Ihr Aufsatz\IC{\franzoesischeraufsatz} in der ,,Revue de Synth\`{e}se``\II{\revuesynthese} enthält. Ich halte nämlich die dort vollzogene Neubegründung des Physikalismus für eine Umstellung prinzipieller Art und sehe in ihr -- nach der Aufgabe der Theorie der Atomsätze -- einen weiteren Schritt zur Überwindung von Auffassungen, die ich als irrig betrachte. Ich glaube, daß es für die weitere Entwicklung Ihrer Gedanken von größter Bedeutung sein wird, daß Sie die Tragweite der in der letzten Zeit vollzogenen Modifikation Ihrer Lehre nicht \sout{mehr} unterschätzen und möchte Ihnen daher vor\neueseite{}schlagen, daß Sie gelegentlich Ihren jüngsten Aufsatz\IC{\franzoesischeraufsatz} mit demjenigen über die ,,Scheinprobleme``\IC{\scheinprobleme} -- und allenfalls auch meiner brieflichen Kritik des letzteren -- vergleichen. Wenn ich mir nun eine Voraussage Ihrer weiteren philosophischen Entwicklung unter dem Zwange gedanklicher Konsequenz, dem sich ein Denker von Ihrer Schärfe und intellektuellen Rechtschaffenheit nicht entziehen kann, gestatten darf, so möchte ich sie wie folgt skizzieren: Die weitergehende Analyse der indirekten Verifizierung von Sätzen wird Ihnen die Problematik der impliziten Voraussetzungen immer mehr ins Bewußtsein rücken und damit die Verdeutlichung, (rationale Nachkonstruktion) des im Denken ,,eigentlich Vermeinten`` als eine grundwichtige Aufgabe -- es ist \uline{die} Aufgabe der echten Philosophie -- offenbaren. Im Zusammenhange damit werden Sie erkennen, daß die Art der gewählten Sprache (bzw. des Kalküls) zwar, wegen ihrer größeren oder geringeren Tauglichkeit als Instrument des Denkens, bzw. der Übermittlung von Gedanken, größte Bedeutung besitzt, daß aber für die wichtigsten der wissenschaftstheoretischen Probleme nicht nur nichts gewonnen ist, wenn man sie als Probleme der Sprache statt als Probleme des Denkens (bzw. des Sinns) bezeichnet, sondern daß hiedurch die Gefahr arger Mißverständnisse und Abwege von den zentralen Problemen nahegedrückt wird. Schließlich werden Sie auch von der in Ihrer ,,Syntax der Sprache``\IC{\logischesyntax} so stark hervortretenden Überschätzung des Toleranzprinzips wieder abkommen, denn dieses konventionalistische Prinzip mag zwar in vielen Fällen als Antitoxin gegen Begriffsmetaphysik sehr wirksam sein, indem es die ,,Freiheit der Definition`` hervorhebt, aber diese Freiheit verschwindet sofort, wenn es sich um die rationale Nachkonstruktion des mit einem Terminus verbundenen Sinns handelt und darum geht es in den methodologischen Kontroversen innerhalb der verschiedenen Wissenschaften in allererster Linie. So also wird sich meiner Meinung, oder doch meinen Wunschträumen \neueseite{} gemäß, Ihre weitere philosophische Entwicklung vollziehen. Doch kehren wir nach diesem -- vielleicht unziemlichen -- Exkurs wieder zur Gegenwart zurück! Ich hoffe mein Buch\IW{} nun endlich in den ersten Julitagen in Druck geben zu können und wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie mir etwaige neuerliche Einwände gegen meine Darstellung längstens in der letzten Juniwoche zukommen ließen, damit ich sie, ohne die Empörung des Verlegers zu erregen, berücksichtigen kann. Ich sende übrigens auch Neurath\IN{\neurath} und Hempel\IN{\hempel} je ein weiteres Exemplar der Physikalismuskritik\IW{}. Wenn ich mich mit Ihren Arbeiten befasse, so empfinde ich immer besonders intensiv den Wunsch Sie wiederzusehen und zu sprechen, einen Wunsch, der auch von meiner Frau\IN{\kaufmannfrau} (der ich eben diesen Brief diktiere) geteilt wird. Wenn ich nicht auf das sorgfältigste jede Unterbrechung meiner sehr geregelten Arbeit hätte vermeiden wollen, so wären wir wahrscheinlich in den letzten Wochen einmal auf ein paar Tage nach Prag gekommen. Aber für jeden Fall möchte ich Sie sehr bitten, daß Sie mir wieder einmal ein paar Worte darüber schreiben, wie es Ihnen und ihrer lieben Frau\IN{\ina} persönlich geht, wie es mit Ihren Amerikaplänen bestellt ist und was Sie im Sommer zu unternehmen gedenken. Wäre es nicht möglich, daß man einander im Juli oder August irgendwo sieht? Bei uns geht alles gut, vor allem auch mit unserem Buben\IN{\kaufmannkind}. Daß ich schon recht übermüdet bin, ist ja nicht verwunderlich, aber nun ist das Wesentliche an meinem Buch\IW{} schon fertig, und mein Gewissen, wenn ich es in Druck gebe, dürfte ein ziemlich gutes sein. Mit den allerfreundlichsten Grüßen und Wünschen an Sie beide bleibe ich} \grussformel{Ihr\\ Felix Kaufmann} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/869994}{RC 028-20-03 (Dsl. FK 008209-008211)}; Briefkopf: gedr. \original{Dr. Felix Kaufmann \,/\, Tel. B-10-4-53 \,/\, Wien XIX. \,/\, Döblinger Hauptstraße 90}, msl. \original{7.\,Juni 1935}.}