\brief{Rudolf Carnap an Otto Neurath, 2. Juni 1935}{Juni 1935} RC 029-09-49; Typoskript Prag, den 2.Juni 1935. Lieber Neurath! Besten Dank für Deine Brief v.18., 24. u. 28. Mai und Zusendung der Kongreßprogramme. Die späte Versendung der Programme wird vielleicht auch eine späte Anmeldung von Vorträgen zur Folge haben. Aber da bin ich zuversichtlich; es werden sich sicherlich noch genug Vortragende melden, nur, wie meist üblich, sehr spät. Aber das ist vielleicht nicht sehr schlimm; der schöne Plan des vorherigen Drucks der Vorträge muß ja sicherlich ohnehin jetzt aufgegeben werden, da es dazu viel zu spät werden wird. Mit Deinem MS über Wirtschaftswiss. bin ich für die Slg. ``Einh.`` einverstanden. Ich möchte Dir aber vorschlagen, besonders die ersten Seiten noch mal durchzuarbeiten und zu ergänzen. Der arme Leser wird da an vielen Stellen plötzlich vor unbekannte Begriffe gestellt, und ärgert sich dann, wenn man eine Vorkenntnis bei ihm voraussetzt, die er nicht hat. Der Umfang des Ganzen wird nur unwesentlich vermehrt werden, wenn Du die unbedingt notwendigen Erläuterungen da noch einfügst. Zum französ. MS: Frank hab ich mehrmals um S.60 gebeten; er meint, sie sei bei ihm nicht doppelt; dann versprach er mir, zwischen das Ganze schon wieder an Dich abgeschickt. Zur Frage der empirischen Kontrolle logischer Sätze (Dein Brief 18.5.). Die zuerst angegebene Formulierung ist mir nicht unbedingt zuwider, wenn sie auch (ebenso wie die Formulierungen von Morris) insofern nicht ganz unbedenklich sind, als sie beim Leser leicht eine empiristische, psychologistische Auffassung inbezug auf Logik u.Math. fördern können. Die dann angegebene Formulierung des Unterschiedes zw. math. u. empir. Sätzen scheint mir aber nicht gut. Über diese Frage müßten wir mal mündlich sprechen. Dafür wäre aber Vorbedingung, daß Du Deine Meinung mal ebenso deutlich formulierst, wie ich meine (im Aufsatz ``Formalwiss.`` und in ``Syntax``) formuliert habe. Wo im Buch ``Sy.`` siehst Du die Gefahr von ``Sätzen an sich``? -- Ja, man könnte sich mit deskriptiver Syntax begnügen, ebenso wie man überhaupt die rein logisch-math. Sätze weglassen könnte. Aber das wäre höchst unzweckmäßig (vgl. Erk. V, 32 unten -- 35 Mitte). Ja, Russell hat bedenkliche Sachen. Ich wollte auch nicht sagen, daß er metaphysikfreier oder sonstwie besser sei als Frank oder sonstwer, sondern, daß er hauptsächlich den Wiener Kreis beeinflußt hat. Wir haben, scheint mir, von ihm mehr gelernt als von irgend einem andern; später erst haben wir dann bemerkt, daß auch er selbst zuweilen Scheinprobleme aufwirft. Schlicks Artikel und Hempels Erwiderung hab ich gelesen. Ich finde auch, das S. Dich nicht gut behandelt. Und daß er Deine und H.s Ausführungen nur flüchtig gelesen hat, sodaß er Euch nun Dinge entgegenhält, die Ihr selbst schon deutlich gesagt habt, z. B. Du über den Vergleich eines Satzes mit einem Stuhl. Andrerseits bist Du aber nicht ganz unschuldig daran, daß er in Deinen Ausführungen angreifbare Punkte fand, weil Du trotz meiner mehrfachen dringenden Warnungen die Behauptung beibehalten hast, daß Sätze nur mit Sätzen vergleichen werden können. Ich sagte Dir schon damals, daß Vogel und Juhos (mit Recht) gerade hiergegen Einwendungen erhoben haben, und daß Du diese Formulierung aufgeben mußt, wenn Du unsre Position nicht immer wieder diesen Einwänden aussetzen willst. Du sagst zwar im letzten Aufsatz, Du meintest damit nur dies und dies. Aber, wie Gegner nun einmal sind, ist ja klar, daß sie sich nicht an diese richtige Formulierung halten, sondern sie außer Acht lassen und die falsche Formulierung angreifen, die Du auch noch mitschleppst. Dies soll aber keineswegs eine Rechtfertigung für Schlick sein. Ich freue mich, daß H. ihm jetzt klar und deutlich entgegnet. Mit Deiner Definition des ``Physikalismus`` (28.V.) kann ich mich gar nicht befreunden. Ich meine, wir halten lieber an der klaren (oder wenigstens verhältnismäßig klaren, wenn auch in einigen Punkten noch klärungsbedürftigen) Definition fest, daß wir unter Ph. Die These verstehen, daß jeder Satz (der Wiss.) in die physikal. (oder besser: in eine physikalistische) Sprache übersetzt werden kann.. Dagegen scheinen mir die Thesen, die Du noch nennst, zunächst viel zu unklar formuliert, als daß man sie zum Ph. zurechnen sollte. Und auch wenn man sie deutlicher Formulieren würde (vielleicht so: daß es wünschenswert oder sogar notwendig sei, die inhaltliche Redeweise allgemein oder inbezug auf ``Fakten`` oder noch spezieller, zu vermeiden, oder ähnlich), so würde ich es aus Gründen der klaren Terminologie vorziehen, ihr einen besonderen Namen zu geben, und dann zu sagen, daß wir außer dem Ph. auch diese These vertreten. -- Analoges gilt für die These der Widerruflichkeit sämtlicher Sätze. Auch sie sollten wir auf keinen Fall unter dem Terminus ``Physikalismus`` mitverstehen, weil sie ganz unabhängig von Ph. im oben angegebenen Sinne ist: man kann Physikalist im angegebenen Sinne sein, und dabei die letztere These sowohl annehmen als auch ablehnen. -- Du selbst bist doch sonst immer für die Tabellenmethode, d.h. doch: für deutliche Trennung der verschiedenen Teilbehauptungen in einer Gesamtauffassung. Das sollten wir beim Ph. unbedingt auch durchführen. -- Mir scheint, wir müssen doch wohl sagen, daß Schlick den Physikalismus bejaht; es sei denn, er würde den seltsamen ``Konstatierungen`` den Charakter von Sätzen beilegen, was er aber vermutlich nicht tut. Zum Rundbriefe v.28.V. Ich bin mit M.R.Cohen, Woodger, Ogden gern einverstanden. Die andern kenn ich nicht. Vielleicht doch nicht jetzt zu viele nehmen. Man kann ja in späteren Jahren weitere hinzunehmen, wenn man wirklich Kontakt gewinnt. Bei Malisoff habe ich doch Bedenken: er ist viell. Metaphysiker. Übrigens schreibt er soeben, das er viell. im Aug. nach Moskau zum Physiologenkongreß fährt. Vielleicht sehen wir ihn dann in Paris. Er beklagt sich, daß man ihm nicht für seine Zeitschrift Mitteilungen über den Pariser Kongreß geschickt hat. Was bedeutet ``isotyp``? Durch gleiches Bild dargestellt? Es erweckt bei Logikern die Assoziation: ``von gleichem logischen Typ``. Könnte man nicht ein anderes Wort finden? Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Dein \textit{R.C.}