\brief{Rudolf Carnap an Karl Popper, 28. Mai 1935}{Mai 1935} %Prag, den 28.Mai 1935. \anrede{Lieber Herr Popper!} \haupttext{Ich bin gerade damit beschäftigt, Ihr Buch\IW{\popperldf} zum zweiten Mal, und diesmal ganz gründlich, durchzulesen, und dabei die Rezension\IC{\rezensionpopper} für ,,Erk[enntnis]``\II{\erkenntnis} zu schreiben, und zwar eine ungewöhnlich ausführliche Rezension. Daß ich mich im Brief nicht ausführlich äußerte, dürfen Sie nicht als Mangel an Interesse deuten. Ich liebe es nicht, brieflich zu diskutieren, es nimmt mir zu viel Zeit, da ich schriftlich sehr langsam formuliere. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß briefliche Bemerkungen doch immer zu kurz sind und notwendig mißverstanden werden. Ich warte daher lieber auf die Gelegenheit, mal mündlich mit Ihnen zu sprechen. Ihr Buch\IW{\popperldf} interessiert mich lebhaft, und ich halte es für eine der wichtigsten erktheor.\blockade{Ergänzung} Veröffentlichungen der Gegenwart; das werde ich auch in einigen Punkten Bedenken äußern, aber nirgends scharfe Ablehnung. Eine Rez. braucht auch gar nicht durchweg positiv zu sein, um das Interesse der Leser zu erwecken. Im Gegenteil, wenn einer sieht, daß da noch diskutiert wird, erscheint ihm das Buch umso interessanter. Ihre Enttäuschung darüber, daß Sie wenig Briefe über Ihr Buch\IW{\popperldf} bekommen, kann ich nach meinen eigenen Erfahrungen nach Veröffentlichung meines ersten Buches\IC{\rjdissertation} gut nachempfinden. Auch ich hatte damals die Illusion, nun würden viele Äußerungen kommen, und es hätte mir nicht viel ausgemacht, ob zustimmend oder kritisch, wenn sie nur gekommen wären. Aber es kamen natürlich im Laufe vieler Monate nur ganz spärliche Äußerungen. Jetzt bei der ,,Syntax``\IC{\logischesyntax} hab ich schon gar nichts anderes mehr erwartet. Ich weiß jetzt, daß das gar nicht ein Zeichen für mangelnde Beachtung ist, zumal ich ja von mir selbst weiß, wie selten ich auf ein neues Buch hin einen Brief schreibe. Daher muß ich etwas lächeln, wenn Sie schreiben, Sie hätten das Gefühl, daß niemand Ihr Buch\IW{\popperldf} liest. Nein, darüber können Sie ganz beruhigt sein: Ihr Buch wird viel gelesen, und mit starker Beachtung, und auch diskutiert; auch ich habe das schon von manchen Seiten gehört. Und wenn erst mal einige Rezensionen erschienen sind, und dann auch das Buch\IW{\popperldf} in andern Aufsätzen und Büchern genannt werden wird, wird das noch ganz erheblich zunehmen. Daran besteht gar kein Zweifel. Aber das erfordert natürlich zunächst einige Zeit. Ich bekam Korr[ektur]-Bogen von Reichenbachs\IN{\reichenbach} Entgegnung\IW{} auf Ihr Buch\IW{\popperldf}. Ich habe Meiner\IN{\meinerfelix} daraufhin veranlaßt, auch Ihnen noch solche zu schicken, falls noch vorhanden. Sie müssen sich keinen Kummer über R[eichenbach]s\IN{\reichenbach} scharfe Kritik machen. R[eichenbach]\IN{\reichenbach} ist bekannt dafür, daß er auf seinem privat-gepachteten Gebiet (Wahrscheinl[ichkeit]) niemand andern gelten lassen will; davon weiß auch Hempel\IN{\hempel} ein Lied zu singen. Für Ihr Buch\IW{\popperldf} wird R[eichenbach]s\IN{\reichenbach} Aufsatz\IW{} nur nützlich sein; schlimm ist nur, wenn eine Veröffentl[ichung] totgeschwiegen wird. Ich weise zwei der ärgsten Mißverständnisse von R[eichenbach]\IN{\reichenbach} schon in meiner Rez.\IC{\rezensionpopper} deutlich zurück; sobald Korr[ekturen] vorliegen, lasse ich Ihnen sie zuschicken. Ich vermute, daß R[eichenbach]s\IN{\reichenbach} Aufsatz\IW{} und meine Rez.\IC{\rezensionpopper} in Heft 4 erscheint. Wenn Sie jetzt einen Aufsatz schreiben, würde ich R[eichenbach]\IN{\reichenbach} (der über die Verteilung auf die Hefte verfügt) drängen, ihn in Heft 5 zu bringen. Ich möchte Ihnen vorschlagen, hauptsächlich eine \neueseite{} positive Darstellung Ihrer Hauptgedanken zu geben, und nur nebenher auf R[eichenbach]\IN{\reichenbach} zu erwidern; das ist weit wirksamer. Wenn dann die Leser unsre drei Sachen gelesen haben werden, wird die Aufmerksamkeit sehr stark auf Ihr Buch\IW{\popperldf} hingelenkt sein. Ist es Ihnen vielleicht möglich, im Sept. nach Paris zum Kongreß\II{\pariserkongress} zu kommen? Sie könnten dort einen Vortrag über Ihre Auffassungen halten; das würde für deren Bekanntwerden sehr nützlich sein, zumal die Vorträge nachher gesammelt veröffentlicht werden. Außerdem könnten Sie dort mit ausländischer Philosophen persönlich bekannt werden, was auch wertvoll für Sie sein könnte. Ich würde Sie z.\,B. mit den Engländern, die ich kenne, bekannt machen. Ob ich im Sommer mal nach Wien komme, ist noch ganz ungewiß. In welcher Zeit sind Sie dort? Ihnen und Ihrer Frau\IN{\popperfrau} herzliche Grüße, auch von Ina\IN{\ina},} \grussformel{Ihr\\ \blockade{ksl.}} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/871833}{RC 102-59-42}; Briefkopf: msl. \original{Prag, den 28.\,Mai 1935}.}