Ich danke Dir wirklich sehr für die freundliche Durchsicht meiner ArbeitBNeurath, Otto!Die Entwicklung des Wiener Kreises und die Zukunft des Logischen Empirismus in französischer Übersetzung erschienen 1936. Ich konnte, als sie mir vom Abschreiber zugeschickt wurde, nicht mehr die Fehler korrigieren, da ich zu sehr mit anderer Arbeit überhäuft war, aber es war ja auch so alles verständlich – auf S. 34 ist die Stelle über die linke Opposition durch Zeilenverschiebung ganz außer Rand und Band geraten. Ich habe FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank S. 59 geschickt und ihn gebeten, Dir sofort S. 60 zu geben. Bitte sag, was Du auch dazu meinst und schick mirs gleich.
Die Zeittabelle hat vieles für sich – ich hatte einmal so eine in meinem Artikel zur Geschichte der OptikBNeurath, Otto! „Prinzipielles zur Geschichte der Optik“– sie enthält halt so wenig Namen. Aber vielleicht werde ich sie doch wenigstens von Francis BaconPBacon, Francis, 1561–1626, brit. Philosoph an bringen, da ich ja schließlich die Filiation einigermaßen zusammenhängend ausgesucht habe, wenn auch nicht rein nach systematischen Gesichtspunkten. Wie ja das Ganze mehr eine Gelegenheitsarbeit ist, wenn auch sehr viel durchgearbeitet und umgearbeitet. Die Kennzeichnung ist durchaus meiner Neigung entsprechend, aber ich möchte sie lieber nicht bringen, weil dann verschiedene Probleme auftreten, die ich hier nicht erörtern will, z. B. die „Metaphysiker“, die in den Materialisten drinstecken usw., obgleich sie Antimetaphysiker sind. Ich habe daher nur die kleine Tabelle eingefügt und, obgleich ich für mich selbst alle Kombinationen durchprobiert und für alle Beispiele gesucht habe, beschränkte ich mich am Schluß auf ein paar Beispiele, die zur Orientierung genügen. Aber Du wirst sehn, wie sehr die liebevolle Mühe genutzt werden wird.
Was Du über Logik und EmpirismusaKsl. (im Wiener Kreis). bezüglich Wichtigkeit schreibst, geht mir seit langem im Kopf herum, und ich will Dir vielleicht meine Einstellung erklären, die Du ja im groben kennst. Bis vor kurzem hatte ich mehr Vertrauen als gegenwärtig zu der erzieherischen Kraft der Logik. Nun bin ich aber ernsthaft der Meinung, daß die nächste Metaphysik ganz besonders stark mit Logik, ja mit Logistik arbeiten wird. Ich sah das an einem Nationalökonomen, der sogar mit FREGEPFrege, Gottlob, 1848–1925, dt. Mathematiker und Philosoph operiert, aber in Seelenruhe die nomothetische Methode usw. in Freiheit dressiert vorführt. USW. Ich bin daher zwar der Meinung, daß die Logik ein notwendiger, aber kein hinreichender Schutz ist, und gerade WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph spricht gegen uns und die Metaphysik von RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph nicht gerade für uns. 🕮
Die größten DienstebKsl. Ich meinte nicht Vergleich der objektiven Bedeutung, sondern des Einflusses im Wiener Kreis.. hast sicherlich Du uns geleistet, die größte Beruhigung hinsichtlich Metaphysikfreiheit habe ich bei FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank, der gerade am wenigsten logistisch interessiert ist. Ich muß aber zugestehn, daß ich nicht genau sehe, wie sich die logistisch strenge Fassung als besonders wirksam für den Empirismus erweisen wird. Ich werde sehr gerne die von Dir hervorgehobene Bedeutung des Logischen noch mehr betonen – obgleich ich das reichlich zu tun meinte –, da ich ja geradezu Fanfare blase, wenn die beiden einander kriegen.
Worin die Weiterentwicklung von HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn, FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank und mir über MachPMach, Ernst, 1838–1916, öst. Physiker und Philosoph, RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph usw. hinaus ging müßte man mal untersuchen (mein lieber Abschreiber hat aus unerfindlichem Grund meinen präzise geschriebenen RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph dauernd in einen Russel verwandelt), ebenso, wie weit Du und SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick gekommen seid. Ich habe die Leistung der einzelnen eigentlich gar nicht erwähnencKsl. ja. wollen und daher alles als Richtungsentwicklung gekennzeichnet. Aber durch Hervorhebung dieser oder jener Ideen wird freilich ein bestimmter Eindruck erzeugt, den ich gar nicht erzeugen will.
Ich müßte wirklich mal überlegen, wie sich die SchlickschenPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Formulierungen zu der These von der physikalistischen Einheitssprache verhalten, die als einzige sozusagen von vornherein gelernt werden könnte und auch die Protokollsätze umfaßt. Das kann man mit der Realismusthese kaum verbinden. Aber sicherlich stand SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick uns früher näher als jetzt. Ich wehre mich natürlich immer dagegen, wenn von Bezeichnung der Welt die Rede ist, während ich von den Sätzen zu sprechen für wesentlich hielt. „Die Welt ist der Bezeichnung zugänglich“ – gerade dagegen trat ich eigentlich im ScientiaartikelBNeurath, Otto!„Physikalismus“ in ScientiaIScientia, Zeitschrift auf, so schien es mir. Wir müssen wirklich mal jemanden finden, der unsere Sache historisch analysiert, nicht wegen der Ehrenmale, sondern weils wirklich interessant wäre zu sehn, wie sich diese Gedanken entfalteten. So glaube ich, daß bei SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick alles absolutistisch gemeint ist usw. usw. Ich glaube, man müßte die Tabellenmethode anwenden, um vorwärts zu kommen.
Ich muß aber weiter eilen, denn gestern abend konnte ich endlich meine BrochureBNeurath, Otto!1935@Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?, Wien, 1935 für die Sammlung EINHEITSWISSENSCHAFTIEinheitswissenschaft, Schriftenreihe abschließen und muß nun noch einiges ergänzen und teilen, da ichs am Dienstag einem theoretischen NationalökonomenPTinbergen, Jan, 1903–1994, niederl. Mathematiker und Ökonom an Universität und Handelshochschule vorlegen möchte‚1Gemeint ist Jan Tinbergen, vgl. unten, Brief Nr. . ehe ichs Dir, JørgensenPJörgensen, Jörgen@Jørgensen, Jørgen, 1894–1969, dän. Philosoph und NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger sende.
Also: Alle Deine Korrekturen wenden sich gegen die Auffassung, daß man die Sätze der Logik und Mathematik an den Zeichen‚dKsl. Diese Auffassung ist in gewissem Sinne richtig. mit denen man herumschiebt, kontrolliert.
Ist Dir diese Auffassung zuwider? Wenn man mich fragt, wieso hältst Du diesen mathematischen Satz für falsch, was kann ich anderes tun, als die Rechnung vorführen? Der Unterschied von mathematischen und empirischen Sätzen wäre, daß es einen Sinn hat zu sagen im empirischen Diskutieren: wenn ich die Drei mir mehr ansehe, werde ich vielleicht merken, daß sie doch nicht eine völlige Drei ist usw.‚eKsl.Keine gute Formulierung. während in der Mathematik es außer 3 und 4 nichts in diesem Bereich an Zeichen gibt, was in Frage kommt. 1, 2, 3, 4 usw. Oder ist Dir das unsympathisch. Bei Dir besteht die Gefahr, daß Du zu „Sätzen an sich“ kommst, was ja ohnehin unserer Bewegung 🕮{}droht. Ich muß mir mal scharf überlegen, wie ich empiristisch mit der „reinen“ Syntax und der „deskriptiven“ Syntax zu Randeazurande komme. Kann man nicht alles so formulieren, daß man mit der deskriptiven Syntax auskommt? Jedenfalls liegt meine Tendenz in dieser Richtung. Vielleicht sagst Du mir was Tröstliches in der Richtung. Was sagst Du zu MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris, sofern er diese Frage anschneidet?
Ich finde RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph in den physikalischen und psychologischen Sachen auch dort traditionell, wo er moderne Dinge vertritt, z. B. Behaviorismus. Aber was stehn da für Dinge, z. B. daß die Vorstellungen im Kopf sitzen und derlei, wenn ich mich erinnere. Ich meine damit, daß z. B. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frankviel moderner über moderne Physik redete als RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph. Oder bist Du anderer Meinung. Was er aber über Soziales sagt, ist durch die völlig unwissenschaftliche Manier auch dann entwertet, wenn es einem sonst angenehm ins Ohr geht. Wie siehst Du z. B. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank gegen RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, um irgendeinen Vergleich zu haben, wobei doch die ungeheuere Bedeutung von RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph zu leugnen mir gänzlich fern liegt. Aber vor der konsequenten, logisch vorsichtigen empiristischen Haltung habe ich eine so große Hochachtung, daß ich an RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph oft Ärgernis nehmen mußte. Du nicht? Aber ich will gern über RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph noch viel Schönes sagen, wenn Du mir ein Liedlein über ihn vorpfeifst. Ich habe seine Sachen zu einem Zeitpunkt gelesen, da ich schon kritischer war als Du in Deiner Jugend, da Du RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph lasest. Da bist Du vielleicht „gerechter“ in diesem Punkt. Ich fand alles etwas unbestimmt bei ihm und voll metaphysischer Diktion usw. Aber vielleicht überschätze ich FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank, weil er mir so viel an Klarheit geliefert hat, die ich auch rückblickend bei ihm noch antreffe, vielleicht das weniger Klare übersehend.
Die 100 Millionen habe ich statt „Bevölkerung“ gesagt, weil ich nicht die jetzige Bevölkerung meine, sondern „das Bevölkerungsvolumen eines Zeitabschnitts“ – das ist die Bevölkerung multipliziert mit der Zeit. Also etwa so gemeint: Land A 100 Jahre lang ca. 40 Millionen, 100 Jahre lang 60 Millionen, ein anderes Land B 100 Jahre lang 55 Millionen, dann hundert Jahre lang 45 Millionen. Das Bevölkerungsvolumen ist im Fall I 10.000 Millionen und im zweiten Fall auch 10.000 Millionen. Ich werde es halt doch so erklären. Es kam mir zu wichtigtuerisch vor, zumal ich mir den Begriff für meine Weltgeschichte extra ausgedacht habe (wie ich mir einbilde).
Brief vom 10. Mai wird mit Zusendung der Einladungen usw. beantwortet werden.
Wie schade, daß man nicht öfter philosophieren kann, oder soll man sagen „scientisteln“?
Mit Grüßen von Haus zu Haus