\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap, 11. Mai 1935}{Mai 1935} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Heute komme ich mit einer Bitte. Sei so lieb und sieh mitfolgendes Manuskript\IW{\neurathentwicklung}\fnE{Wie aus dem Folgebrief hervorgeht, handelt es sich dabei um das deutsche Manuskript von Neurath, \textit{Le développement du Cercle de Vienne et l'avenir de l'Empirisme logique}; ein Exemplar dieses Manuskripts findet sich unter ON 193/K.9.} möglichst bald durch und versieh es mit Bemerkungen -- übrigens würden mir auch positive Äußerungen erwünscht sein, da ich ja leider so oft\fnA{Hsl. Korrektur eines unleserlichen Wortes.} eines Gespräches mit Dir entbehren muß (na war das keine schöne Genitivkonstruktion?). Im übrigen lebt man mehr mies dahin und genießt mehr die Schattenseiten des Daseins. Wissenschaftliche Arbeit, etwas viel unterbrochen durch allerlei Zeug, ist ein gewisser Trost. Ich höre so wenig von Anregungen für den Kongreß\II{\pariserkongress}. Wer soll reden, was soll geredet werden. Rougier\IN{\rougier} stellt einiges zusammen, ein paar Sachen sind bei mir angemeldet. J\o{}rgensen\IN{\joergensen} wäre bereit, über Logicism and Empiricism zu reden, Feigl\IN{\feigl} hat auch allerlei angemeldet usw. Ihr bekommt bald eine Übersicht. Wird aus der biolog\editor{isch-}physikalischen Kolloquiumarbeit in Prag\II{\carnapfrankzirkel} nichts für den Kongreß\II{\pariserkongress} herauswachsen?\fnE{Zu diesem Kolloquium siehe oben, Brief Nr.~\refcn{1935-03-26-Carnap-an-Neurath}.} Vielen Dank für die mathem\editor{atische} Arbeit\IC{\gueltigkeitskriterium}.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Gültigkeitskriterium}}.} Mit Interesse las ich, was Du über Wittg\editor{enstein}\IN{\wittgenstein} und Sch\editor{lick}\IN{\schlick} schreibst.\fnE{Carnap, ,,Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen Mathematik``, S.~167; dort werden Wittgensteins und Schlicks Bestimmungen des Begriffs ,,analytisch`` als unzureichend zurückgewiesen.} Das ist die Bemerkung, die Du mir damals am Fuß des Weißen Berges unter Bäumen zugeraunt hast. Was ich apperzipiere ist immer genußreich -- aber schöner wärs, noch im warmen Meeressande zu liegen und die Logische Syntax\IC{\logischesyntax} neben sich, so was behaglich zu genießen\ldots{} Wir haben jetzt ungefähr 1000 Adressen (inkl. Universitäten und Fakultäten) beisammen, so daß es bald losgehen kann. Die Hefte\IW{}, die Wagons Lits zusammenstellen, sind noch nicht in Korrektur da. Rougier\IN{\rougier} ist in Besan\c{c}on und kann jetzt vieles vorbereiten. Die Arbeiten werden ja jetzt immer mehr ihn belasten. Nagel\IN{\nagel} war mit Frau\IN{\nagelfrau} hier. Es war sehr nett. Er erzählte auch allerlei über USA, Philosophisches und Militaristisches, insbesondere über die Exerzierübungen der Studenten, die er mitmachte. Wenn man weiter exerziert, kann man sogar Reserveoffizier werden und kriegt für diese Vorbereitungssemester Stipendien. Jetzt bemerkte ich auch, wie an den amerik\editor{anischen} Universitäten die Military Sciences neben der Theologie eine sinnvolle Stelle einnehmen\ldots{} Ich würde gern mal wieder von Euch hören. Mit guten Grüßen an Dich und Inen\IN{\ina}werden } \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/811377}{RC 029-09-55 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Herrn Prof. R.~Carnap\,/\,Prag} und \original{11.V.35}.}