\brief[Neurath an Carnap, o.\,O., 19.~April 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 19. April 1935}{April 1935} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Dank für Brief vom 11.\,IV. Paris\II{\pariserkongress} endlich in Ordnung. Als ich mit Rougier\IN{\rougier} am 15. sprach, sagte er auch Geldsendung zu. Große Schreibarbeiten können wir nicht dauernd aus eigenem zahlen. Wie schön, daß Du lang in USA sein willst. Da wäre doch ein Kongreß im Frühjahr 1936 fein. ,,Ostern in Warschau``. Bevor das Gas kommt. Heuer werden die Italiener in Abessinien kaum mehr anfangen können, weil die Regenzeit naht,\fnEE{Der italienische Angriff auf Abessinien (Äthiopien) erfolgte Anfang Oktober 1935.} und auch sonst weiß nicht jeder genau genug, mit wem er Feind und mit wem er Freund sein soll. Also haben wir wohl bis 1936 Zeit. Das Gas dürfte aber sich eher den Sommer aussuchen. Erkenntnislehre\IW{\schlickerkenntnislehre} von Sch\editor{lick}\IN{\schlick}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Schlick}}.} nachgelesen. Ja, das ist ungefähr, was er jetzt sagt, und auch was er abgeschwächt im Zirkel\II{\schlickzirkel} sagte: ,,Die unmittelbar gegebenen Elemente gehen niemals selbst in die physik\editor{alische} Theorie ein \ldots{}`` ,,1. Das Wirkliche, das an sich Existierende \ldots\ 2. Die\fnA{\original{Das}} physikalischen Begriffe (Ganglienzellen)\ldots{} 3. Die anschaulichen Vorstellungen, die uns zur Repräsentation der eben genannten Begriffe dienen \ldots``\fnSE{Schlick, \textit{Allgemeine Erkenntnislehre,} 271 bzw. 274.}\fnE{Schlick, \textit{Allgemeine Erkenntnislehre,} 271 bzw. 274 (bei Schlick heißt es dort genau: ,,\ldots (Ganglienzelle, nervöse Erregung usw.)``).} Das ist doch die Metaphysik in nuce, die er jetzt vertritt, warum willst Du ihr den Namen Physikalismus verleihen? Ein Vorläufer der Anschauung, daß man mit einer Sprache, der physikalischen, auskomme, aber ein Vorläufer, wie wir alle damals waren. Keine Antizipation, wie ich nach Deinem Brief vermutet hätte. Aber vielleicht meinst Du etwas Bestimmtes und nicht diese metaphysische Dreiteilung. Ad Wittg\editor{enstein}\IN{\wittgenstein}. Hempel\IN{\hempel} half mir ihn freundlich behandeln.\fnEE{Gemeint ist vermutlich die Passage in Neurath, \textit{Le développement du Cercle de Vienne et l'avenir de l'Empirisme logique}, 48f.\,/\,GmphS 697.} Ich besprach mit Hempel\IN{\hempel}-Oppenheim\IN{\oppenheim}, daß über Typusbegriff in den Wissenschaften referiert werden könnte.\fnEE{Hempel referierte in Paris über ,,Die logische Bedeutung des Typusbegriffs``; in den Kongressakten publiziert als: Hempel/Oppenheim, ,,L'importance logique de la notion de type``. Vgl. auch die spätere Ausarbeitung: Hempel/Oppenheim, \textit{Der Typusbegriff im Lichte der Neuen Logik}, sowie Neuraths Rezension, ,,La notion de ,Type` à la lumière de la logique nouvelle``.} Das paßt zum Thema ,,Einheit der Wissenschaft`` -- wäre entweder unter Anwendungen oder in Spezialsektion zu behandeln. Nehme an, daß Du damit einverstanden bist. Mir ist die empiristische Fassung des Titels wichtig, weil ich ja jetzt die Spezialsorge habe, es käme bald das berühmte Buch: METAPHYSICA MODO LOGISTICO\fnA{\original{LOGISTICA}} DEMONSTRATA. Wenn es erscheint, eventuell unter anderem Titel, erbitte ich wieder Prognosenbestätigung, wie im Fall Waismann\IN{\waismann}. In Sache \ldots r\IN{\meinerfelix}\fnEE{Gemeint ist hier Felix Meiner, Neurath verwendet die Abkürzung wohl aus Sicherheitsgründen}.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Meiner}}.} Es handelt sich nicht darum, ob ein Fall unter das Axiomensystem einer Rechtsordnung fällt. Es sind Übergriffe, extensive Interpretation usw. an der Tagesordnung. \gesperrt{Via Facti} kann man aber vieles tun, was man nicht mehr wagen kann, subsumierend unter Rechtsbegriffe zu vertreten. Und es ist gut, wenn jemand naiv sagen kann, er hätte nie gedacht, daß \ldots\ Deine Anfrage nimmt aber dem Befragten die Naivität. Daß \ldots r\IN{\meinerfelix} uns gut gesinnt ist, weiß ich aus einem konkreten Fall, in dem er sich fabelhaft gut aufgeführt hat. Besonders nett war, wie er sich nichts zu wissen machte. Nun scheinst Du zu übersehen, daß die \gesperrt{Anfrage} einschließt, Du seist der Meinung, eine bestimmte Antwort würde gewisse Leute treffen, die in Betracht kommen. Und diese \neueseite{}\zzz Information braucht man dem Gegner nicht zukommen zu lassen. Damit meine ich doch nicht \ldots r\IN{\meinerfelix}. \gesperrt{Aber} jeder Brief ist für Devisenstelle offen, und daß die sich nicht nur für Devisen interessiert, weißt Du. Weiter, in jedem Betrieb ist doch jene Partei ausgiebig vertreten, die jetzt mit der Behörde identifiziert wird. Jeder einlaufende Brief wird nicht nur vom Chef gelesen, und auch die Antwort muß abgelegt, also dritten Personen zugänglich gemacht werden. Wovon man nicht wünscht, daß es die erfahren, deren Wohlwollen nicht gesichert erscheint, davon schreibt man besser nicht in Briefen in jene Gebiete, wo solche Zustände herrschen, wie sie sich der Bürger eines Quasi-Rechtsstaates nicht vorstellen kann, wohl aber ich, der ich vielfältige Erfahrungen mit solchen Gebilden habe. Daß Du Bavink\IN{\bavink} als Propagator empfindest, ist arabisch: ,,Der Hund kläfft -- die Karawane marschiert.`` Aber, wenn Du den Ernst von O\editor{skar} K\editor{raus}\IN{\krausoskar}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Kraus}}.} sympathisch findest, vergiß nicht, daß andere den Ernst gewisser anderer Gruppen sympathisch finden, die nicht ohnmächtig wie O\editor{skar} K\editor{raus}\IN{\krausoskar} sind, sondern bei gleicher Gesinnung dieser Gesinnung Ausdruck verleihen \ldots\ Ich glaube, O\editor{skar} K\editor{raus}\IN{\krausoskar} ist für unsere Opposition reif. Schade, daß wir Euch diesmal nicht sehen, aber hoffentlich vor dem Kongreß\II{\pariserkongress}. Wir grüßen alle zusammen Euch zwei beide } \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/811954}{RC 029-09-60 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: msl. \original{19.\,IV.\,35}, ksl. \original{bekommen Brüssel 22.4.}.}