\brief{Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 16. April 1935}{April 1935} %16. 4. 35 %Herrn Prof. Dr. Rudolf Carnap %Prag, Pod Homolkou \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{besten Dank für Ihren Brief vom 8.\,4. und die Karte vom 12.\,4. Die beiden Hefte\IW{} \IW{} von Neurath\IN{\neurath} und Ihnen habe ich gefunden und schicke sie gleichzeitig an Grelling\IN{\grelling}. Das Zimmermansche\IN{} Manuskript\IW{} will ich lesen und Ihnen dann schreiben. Ihren Brief\blockade{Referenznummer} an Jonas Cohn\IN{\rjcohn} finde ich in der Form gut. Über Popper\IN{\popper} habe ich einen Aufsatz\IW{} geschrieben, der jetzt bei Meiner\II{\meinerverlag} zum Satz ist. Sie bekommen ja die Korrektur. Ich würde ja Poppers\IN{\popper} Buch\IW{\popperldf} nicht so hart beurteilen, wenn es vor 20 Jahren geschrieben worden wäre. Aber nachdem was seitdem alles von uns über diese Dinge gearbeitet worden ist, scheint mir eine solch naive Darstellung der Probleme heute doch etwas zu sein, wogegen wir Stellung nehmen sollten. Es besteht für uns alle die Gefahr, daß wir die Arbeiten von Leuten, die uns der Richtung nach nahestehen, weniger streng beurteilen, als die Arbeiten unserer Gegner; davor müssen wir uns in acht nehmen. Zu schreiben, daß die Wissenschaft den Induktionsschluß nicht benötige, und zum Schluß einen metaphysischen Glauben an die Gleichförmigkeit der Welt zu postulieren, ist eine Naivität, die in unserem Kreise schärfer verboten sein sollte als bei anderen Leuten. Diese Naivität entspricht dem menschlichen Eindruck, den ich von Popper\IN{\popper} in Prag hatte. Schon dort hatte ich das Gefühl, daß Popper\IN{\popper} den von ihm behandelten Fragestellungen intellektuell und kritisch gar nicht gewachsen ist. Das entsprechende \neueseite{} scheint übrigens auch auf mathematischem Gebiet zu gelten, denn was Popper\IN{\popper} zur Wahrscheinlichkeitsrechnung und zur Kritik meiner Wahrscheinlichkeitslogik sagt, ist vollständiger Unsinn. Wenn das einer von den Kantianern oder Phänomenologen geschrieben hätte, würde man es auch ihm in Wien schwer verübelt haben. Das Rezensions-Exemplar\IW{\popperldf} von Popper\IN{\popper} steht Ihnen natürlich formell zu, nachdem mein Aufsatz\IW{} wegen Popper\IN{\popper} formell nicht den Charakter einer Rezension hat. Es wäre mir aber angenehm, wenn ich es wenigstens noch einige Zeit hier behalten könnte, da ich vermute, daß Popper\IN{\popper} mir nach Erscheinen meines Aufsatzes\IW{} schreiben wird und dabei vielleicht auf sein Buch\IW{\popperldf} Bezug nehmen wird. Ein anderes Exemplar des Buches\IW{\popperldf} steht mir hier in Istanbul nicht zur Verfügung. Ich kann auch auf Ihren Vorschlag eines Austauschs mit Popper\IN{\popper} nicht eingehen, da die freien Exemplare von meinem Buch\IW{} schon vergeben sind. Ihre Rezensionen können gerne in das Heft nach dem Kongreß-Bericht\IW{} hinein. Bitte schicken Sie sie gleich mit entsprechendem Vermerk an Meiner\II{\meinerverlag}. Es wird Sie interessieren, daß ich vor einigen Wochen eine Einladung als Gast-Professor nach New York\II{\newyorkuniversity} erhielt, auf ein Jahr. Ich wäre sehr gern hingegangen, aber die hiesige Regierung hat mir die Beurlaubung verweigert, und da ich hier vor Ablauf eines weiteren Jahres nicht kündigen kann, konnte ich die Einladung nicht annehmen. Sie können sich denken, daß ich über die hiesige Regierung ziemlich verärgert bin und mich jetzt nach einer Gelegenheit umsehen werde, hier wegzukommen. Herzliche Grüße, auch an Hempel\IN{\hempel}, wenn dieser Brief Sie erst in Brüssel erreichen sollte,} \grussformel{Ihr\\{}[Hans Reichenbach]} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/848535}{HR 013-41-20}; Briefkopf: msl. \original{16.\,4.\,35 \,/\, Herrn Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Prag, Pod Homolkou}.}