\brief[Carnap an Neurath, Prag, 11.~April 1935]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 11. April 1935}{April 1935} \anrede{Lieber \textit{Neurath}!} \haupttext{ Besten Dank für zahlreiche Briefe. Gut, daß es Dir gelungen ist, 1935 Paris\II{\pariserkongress} zu retten. \cutcn{Warum nur macht Rougier\IN{\rougier} so viel Geschichten? Mit Deinem Brief an R\editor{ougier}\IN{\rougier} v. 2. April war ich vollkommen einverstanden, ebenso Frank\IN{\frankphilipp}. Bitte Kongreß-Einladung an: Prof. G. Tanabe\IN{\tanabe}, Kyoto (Japan), Kaiserliche Universität. Die Reise zur Harvard Univ\editor{ersity}\II{\harvard} möchte ich nicht im Neurath-Tempo machen, dem meine Knochen und Nerven nicht gewachsen sind, sondern ich will die Gelegenheit benutzen, drüben auch mit andern Universitäten in Fühlung zu kommen. Ich werde also wahrsch\editor{einlich} den ganzen Sommer 1936 bis Okt. drüben sein. Daß ich dann hier den Kongreß nicht mitmachen kann, tut mir sehr leid, besonders weil er vielleicht in Warschau sein wird, wo sicher viel Logistik und Syntax diskutiert werden wird. Von A\ekl{merican} E\ekl{xpress} London noch keine Nachricht; ich habe jetzt angefragt.} Wittg\editor{enstein}\IN{\wittgenstein} hat unserm Empirismus eine wichtige Unterstützung gebracht dadurch, daß er die (für Mill\IN{\mill} noch unüberwindlichen\fnA{\original{unüberwindliche}}) Schwierigkeiten einer empiristischen Deutung von Math\editor{ematik} u. Logik überwand, indem er zeigte, daß sie analytisch sind. Besonders Hahn\IN{\hahnhans} hat diese Verbesserung des Empirismus immer wieder betont.\fnEE{\labelcn{1935-04-11-Carnap-an-Neurath-Hahn-Anti-Mill}Vgl. Hahn, ,,Die Bedeutung der wissenschaftlichen Weltauffassung, insbesondere für Mathematik und Physik``, ,,Empirismus, Mathematik, Logik`` und \textit{Logik, Mathematik und Naturerkennen}.} Die taktisch richtigste Haltung scheint mir jetzt die zu sein, daß wir Wi\editor{ttgenstein}s\IN{\wittgenstein} Verdienste ruhig anerkennen, aber uns von seiner Metaphysik deutlich abgrenzen. Schlicks\IN{\schlick} Physikalismus: Erk\editor{enntnis}lehre\IW{\schlickerkenntnislehre}, 2. A\editor{uflage}, S.\,270--273. Meiner\IN{\meinerfelix} hat geschrieben, daß die Zeitungsmeldung nicht stimmte. Deine Bedenken waren hier sicherlich unnötig. M\editor{einer}\IN{\meinerfelix} ist doch nicht Behörde, sondern wie wir interessiert, Bewegungsfreiheit zu haben. Ich finde Bavinks\IN{\bavink} Polemik nicht schlimm. Es macht doch die Leute auf unsre Sachen aufmerksam. Der liebe Oskar Kraus\IN{\krausoskar} ist ganz anders. Er hat, wie mir berichtet wurde, in seinem Seminar gesagt, eigentlich sei meine Ansicht, daß die ethischen Normen nicht wissenschaftl\editor{ich} begründbar seien, gemeingefährlich, und er habe sich überlegt, ob er nicht die Pflicht habe, mich vor Gericht anzuklagen, habe auch mit Masaryk\IN{\masaryk} über die Frage gesprochen. Er wolle es aber doch nicht tun, denn sicherlich glaubte ich ja selbst nicht, was ich da sage. Trotzdem kann ich nicht umhin, gegen ihn immer freundlich zu sein, gerade weil ers alles so ernst nimmt, was mir ja im Grunde doch sehr sympathisch ist.\fnEE{Zu dieser Episode und der Beziehung zu Kraus vgl. Carnap, ,,Intellectual Autobiography``, 81f., sowie Damböck, ,,The Politics of Carnap's Non-Cognitivism``, 501 u. 509.} (Welcher Gegensatz zu dem Schwätzer Utitz\IN{\utitz}!). Und auch Du solltest Dich nicht ärgern, freundlich gewesen zu sein, auch wenn er sich hat hinreißen lassen, gegen Dich eine polit\editor{ische} Spitze zu äußern.\fnE{Vermutlich ist hier eine der recht scharfen Bemerkungen gemeint, die sich im Brief von Kraus an Neurath vom 23.~Januar 1935 (ON 238) finden.} \neueseite{}} \briefanhang{12. April Gestern bei Franks\IN{\frankphilippfrau}\IN{\frankphilipp} trafen wir zufällig Kraus\IN{\krausoskar}. Er gab zu, unsere Auffassung als kulturgefährlich hingestellt zu haben, bestritt aber, von Gerichten geredet zu haben. Er diskutierte heftig, wie immer, trotz seines Wohlwollens, das uns wenig hilft. Frank\IN{\frankphilipp} erzählte mir, was er Dir über Schlick\IN{\schlick} geschrieben hat.\fnE{Philipp Frank an Otto Neurath, März 1935 (ON 235); Frank berichtet dort über die mündlich von Schlick noch einmal bekräftigte Weigerung, die Diskussion mit Neurath fortzusetzen, was Frank ,,sehr grob`` fand (ebd.).} Ich stimme da im ganzen mit ihm überein. Wir fahren jetzt ins Rheinland, da ich aus geschäftl\editor{ichen} Gründen mit meiner Schwester\IN{Kaufmann, Agnes, 1890--1976, geb. Carnap, Schwester von Rudolf Carnap} reden muß. Wir werden dann auch einen Abstecher zu Hempel\IN{\hempel} machen (dort erreicht mich Post vom 23. bis 25. April).\fnE{Zu dieser Reise siehe TB 15.4.--30.\,4.\,1934.} Wir haben auch erwogen, Euch zu besuchen. Leider ist aber diesmal die Zeit zu kurz, da wir am 29. wieder in Prag sein müssen. Ich hoffe aber, wir sehen uns im Sommer noch vor dem Kongreß\II{\pariserkongress}. Dir, Olga\IN{\neuratholga} und MR\IN{\reidemeistermarie} herzliche Grüße, auch von Ina\IN{\ina} } \grussformel{Dein\\R. Carnap} \briefanhang{PS. Feigl\IN{\feigl} schreibt, daß er seine bibliogr\ekl{aphischen} Notizen an Morris\IN{\morris} geschickt hat, und daß er großen Wert darauf legt, in der Bibliographie als Amerikaner zu erscheinen, mit der Bemerkung, daß er urspünglich Mitglied des Wiener Kreises war.} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/812027}{ON 220 (Dsl. RC 029-09-61)}; Briefkopf: gedr. \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.\,/\,Pod Homolkou 146}, msl. \original{Prag, den 11.~April 1935}.}