\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 30.~März 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 30. März 1935}{März 1935} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{\cutcn{Vielen Dank für das poln\editor{ische} Exzerpt (zum Behalten). Die Hempelrez\editor{ension}\IN{\hempel} wird für Prospekt ausgewertet. Bavink\IN{\bavink} bekommst Du zurück, ebenso Hempel\IN{\hempel}. Natürlich wird mit Kartothek gearbeitet. Aber infolge eigenartiger historischer Umstände wurde eine räumliche Verschiebung durchgeführt. Dabei ist nicht sicher, ob alle Kartothekabschriften mitgekommen sind, wohl aber der Grundstock. Jedenfalls Dank für die Ergänzungen. Auch angenehm für die Kongreßpropaganda. Wir beginnen jetzt mit der Aussendung der Programme. Ich treffe R\editor{ougier}\IN{\rougier} nächster Tage in Brüssel. Ich freue mich, daß Du, wie ich, unbedingt für 1935 Dich aussprichst. Inzwischen hat ja auch R\editor{ougier}\IN{\rougier} sich bereit erklärt, den Kongreß\II{\pariserkongress} in bescheidenerem Umfang (modeste) zu organisieren -- wir sind ja als Empiristen ganz damit einverstanden. Die Zahl der Teilnehmer wird nicht beschränkt, aber wenn keine rauschenden Empfänge und Feste versprochen werden, kommen manche Leute nicht, die entweder für sich selbst oder für ihre Frauen usw. derartiges erhoffen. Das\fnA{\original{Da}} spielt \gesperrt{unbewußt}, meine ich, mit. Andererseits lockt z.\,B. viele \gesperrt{Paris} an sich, und manche kommen, weil diese Stadt gewählt wurde. Oder mindestens ist das mit bestimmend. R\editor{ougier}\IN{\rougier} war sehr für 9 Uhr Anfang. Es beginnt ja doch nicht pünktlich. Es gibt immer allerlei Mitteilungen usw. ,,Commissions d'etudes`` hat R\editor{ougier}\IN{\rougier} vorgeschlagen. Das ist ein Mittel, um breite Auseinandersetzungen später fortzusetzen. Z.\,B. interessieren sich jetzt schon zwei Leute für einheitliche logische Terminologie, Helmer\IN{\helmer} und ein Scholzist\IN{\beckeralbrecht}\fnE{Vermutlich ist hier Albrecht Becker gemeint, vgl. unten, Brief Nr.~\refcn{1935-07-10-Carnap-an-Neurath} und \refcn{1935-07-18-Carnap-an-Becker_et-al}.} -- die werden dann mit Dir und anderen ein solches Komitee formieren usw. Auch unser Enzyklopädievorschlag wird einem Komitee überwiesen, das wir von der UNITY OF SCIENCE SECTION aus vorschlagen. Ich hoffe, Du wirst Dich der Sache annehmen, Morris\IN{\morris} versucht -- bis jetzt vergebens -- die Rockefellerstiftung\II{\rockefellerstiftung} in Bewegung zu setzen, aber es gibt auch noch andere Wege. Ich schreibe bald darüber ausführlicher. Mit größter Freude höre ich von Deiner Harvard-Reise\II{\harvard} 1936. Hoffentlich fällt das nicht genau in den Kongreß 1936. Weißt Du den genauen September-Termin? A\editor{merican} E\editor{xpress} hat uns Eingang des Geldes schon bestätigt.} Ach ist das alles traurig mit Sch\editor{lick}\IN{\schlick} und mit Wa\editor{ismann}\IN{\waismann} und mit Wi\editor{tt"-gen"-stein}\IN{\wittgenstein}. Dazu kommt, daß Frank\IN{\frankphilipp} meint, er könne mit meiner Interpretation\IW{\neurathradikal} von Schlicks\IN{\schlick} Aufsatz\IW{\schlickfundament} nicht einverstanden sein.\fnE{Neurath, ,,Radikaler Physikalismus und ,Wirkliche Welt`\grqq, bzw. Schlick, ,,Über das Fundament der Erkenntnis``.} Könntest Du mir nochmal sagen, wie Du Schlicks\IN{\schlick} Auffassung ansiehst, soweit ich \neueseite{}\zzz sie angegriffen habe. Ich glaube nicht, daß ich ihm Unrecht tue. Ich sehe im Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} vor allem eine Richtung des \gesperrt{Wissenschaftlichen Empirismus}, und der Beitrag von W\editor{ittgenstein}\IN{\wittgenstein},\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Wittgenstein}}} so \gesperrt{anregend} er war, betrifft nur einen Ausschnitt. Wi\editor{ttgenstein}\IN{\wittgenstein} selbst dagegen ist absolut kein wissenschaftlicher Empirist, sondern durch und durch Metaphysiker und Absolutist. Man müßte das wirklich mal analysieren. Ich finde, die kontinuierlichste Linie hat Philipp Frank\IN{\frankphilipp} eingehalten, er zeigte, so meine ich, besonders wenig Metaphysik und besonders viel Wissenschaftslogik in seinen Arbeiten. Was bringt Wi\editor{ttgenstein}\IN{\wittgenstein} da für entscheidende -- wenn auch wichtige -- Ergänzungen. Ich selbst glaube nur mäßig von Wi\editor{ttgenstein}\IN{\wittgenstein} beeinflußt zu sein, wenn auch, wie der ganze Kreis\II{\schlickzirkel}, stark angeregt. Wo spricht Schlick\IN{\schlick} in der Erkenntnislehre\IW{\schlickerkenntnislehre} davon, daß alle Sätze physik\editor{alistisch} formulierbar seien? Warum wirs nicht früher bemerkten? 1. Weil wir Schlicks\IN{\schlick} Erkenntnislehre\IW{\schlickerkenntnislehre} kaum ansahen, da unsere Diskussionen auf einer Ebene sich abspielten, die in der Erkenntnislehre\IW{\schlickerkenntnislehre}, aber auch in den anderen Publikationen des Wiener Kreises\II{\schlickzirkel} bis dahin nicht \gesperrt{explicit} und \gesperrt{detailliert} erörtert worden waren. Und gerade auf die Zuspitzung kam es an. 2. Weil Sch\editor{lick}\IN{\schlick}, als wir mit Physikalismus ernster anfingen, bereits sich der Wittgensteinschen\IN{\wittgenstein} Metaphysik zuwandte, in die er jetzt verstrickt ist. Man kann unmöglich sagen, daß seine Arbeit über das Fundament der Erkenntnis\IW{\schlickfundament} auf dem Standpunkt des Physikalismus steht. Er möchte das ,,dritte`` Reich\fnEE{Das ,,dritte Reich`` ist eine unter anderem von Frege und Hermann Lotze verwendete Bezeichnung für den platonischen Himmel. Vgl. Gabriel, ,,Reich, Drittes``.} irgendwie sichern, das neben Logik, Realwissenschaften irgendwie existieren soll. So wird das von mir andeutend empfunden. Irre ich? Schl\editor{ick}\IN{\schlick} war immer gegen die Thesen, die mit Physikalismus zusammenhingen, als wir davon zu reden begannen, und zwar in einer sonderbaren Weise, er fand, all das sei trivial, das eigentliche Problem stecke woanders usw. Und wenn man das woanders zu formulieren suchte, war er wieder in irgendwas ganz derselben Meinung, die ja auch Wi\editor{ttgenstein}\IN{\wittgenstein} immer gehabt hätte oder seit Jahren habe, aber es gebe eben doch einen wesentlichen Unterschied, nämlich \ldots\ und so weiter. Du kennst doch diesen Mechanismus aus eigener Erfahrung. Oder ist das schon eine zu kritische Einstellung meinerseits. Ich habe wirklich Sorge, ich könnte Sch\editor{lick}\IN{\schlick} Unrecht tun, was \gesperrt{mir sehr leid täte}. Aber ich glaube nicht, daß ichs tu, sondern es steht schlimm mit seiner Gesamtanschauung. Wobei nicht zu leugnen ist, daß man im einzelnen seinen gesunden Sinn anerkennen muß, der ihn weit von Waismanns\IN{\waismann} Art entfernt, der sich in alle Irrwege begibt, ohne immer wieder das Geländer der Wissenschaft zu ergreifen. Lieber, guter Carnap\incarnap{}, ich hätte an Deiner Stelle \gesperrt{nicht} bei Meiner\IN{\meinerfelix} angefragt. Du bringst ihn dadurch in eine schlechte Lage. Ich habe die Zeitungsnotiz auch gelesen und mir gedacht, solange M\editor{einer}\IN{\meinerfelix} \gesperrt{nicht} ausdrücklich gepreßt wird, muß er ja nicht über jeden alles \gesperrt{wissen}. So eine Anfrage kann in allerlei Hände kommen und Leute auf Gedanken bringen, die sie noch nicht gehabt hatten. Zwei Geschichten: Einem Juden ist ein Kupferkessel \ekl{von} zwei Meter Durchmesser gestohlen worden. Er sitzt im Gasthaus und jammert. Der Dieb ihm gegenüber sagt (aus eigenem\fnA{\original{eigem}} Erleben sprechend): aber, was sorgen Sie sich, wie soll der Dieb einen so großen Kessel abtransportieren können. Der Bestohlene: Wie haaßt? Abtransportieren? Zerschnitten wird er ihn haben auf kalane Stücker. Der Dieb zahlt sein Bier und geht mit dem verheißungsvollen Wort: ,,Esoi!{}``\fnEE{Esoi: jiddisch für ,,so``, ,,ach so``.} Er hat etwas zugelernt. Ein Jud steht in einem Fleischerladen vor einem Stück saftigem \neueseite{}\zzz Schweinefleisch und fragt den Schlächter: Was kost das scheene Kalbfleisch da? Darauf der Schlächter: das ist kein Kalbfleisch, das ist ein Schweinefleisch. Der Jude: Ich hab Se gefragt, \textkritik{was das kost, und nicht, was das ist}\fnSE{Im Original: \glqq\ldots\ Ich hab Se gefragt, was das ist, und nicht, was das kost.\grqq}\fnA{\original{was das ist, und nicht, was das kost}}. Solche Probleme mit Zeitschriften werden oft via facti gelöst, indem man sich \gesperrt{nicht} drum kümmert. Ohne ,,Ja`` und ,,Nein``. Die Österreicher sagen: Wer viel fragt, geht weit irr. Ich bin übrigens auf die Antwort neugierig, nachdem einmal die Frage getan wurde. An sich ist bei niemandem klar, daß er nicht ganz in Ordnung ist, einer heißt wie der Außenminister,\fnEE{Konstantin von Neurath war 1932--1938 deutscher Außenminister.} der andere ist der Nachkomme eines Abtes, polnische Namen decken überhaupt alles, und Moritz kann man heißen, auch ohne aus dem auserwählten Volke zu sein. Und daß der Fleischer Schlick in Bubenec ein Jude sein soll, beweist wenig. Wo kein Kläger ist, ist kein Richter, und M\editor{einer}\IN{\meinerfelix} ist ja nicht zur internationalen Ahnenforschung verpflichtet. Durch Fragen drängt man ihn beinahe dazu. Heil dem heilenden Daumen und der dazu gehörigen Ina\IN{\ina}! Warum kein Tee\fnA{\original{Thee}} in Paris? Man muß sich doch einmal ungezwungen kennen lernen. Wenn man ganz schnorrerhaftig ist, kann man ja ein Buffet einrichten, wo man dafür zahlt, daß man gefärbtes Wasser kriegt. Aber ich glaube, R\editor{ougier}\IN{\rougier} wird das schon machen. Mehr Sorgen macht mir, wie wir die Kongreßpublikationen \gesperrt{vorher} drucken, um den Hörern was in die Hände zu drücken. Aber ich nehme an, R\editor{ougier}\IN{\rougier} wird schon was wissen. Daß Du mit Frank\IN{\frankphilipp} Physik und Biologie in Kolloquium\II{\carnapfrankzirkel} besprichst, ist ja phantastisch schön -- schade, daß man so fern ist. Ich glaube, es kommt auf alle Fälle was raus. Ja, Freundlich\IN{\freundlich} und andere haben es schwer in der Welt. Wer aber nicht? Alles kommt ins Wanken und da gibt's halt Bruch und Krach. Für Ogden\IN{\ogden} sind beide Bändchen im Fertigwerden. Es handelt sich nicht um ,,Illustrationssache``, sondern einmal um INTERNATIONAL PICTURE LANGUAGE\IW{\neurathbildunterricht} und dann um BASIC BY PICTURES\IW{\neurathbasicisotype}.\fnEE{Beide Bände (der zweitgenannte unter dem Titel \textit{Basic by Isotype}) erschienen in der von Ogden herausgegebenen Reihe \textit{Psyche Miniatures} (General Series).} Der Versuch, in der Bildersprache auszudrücken, was die Basicsätze ausdrücken. Das ganze Büro arbeitet, MR\IN{\reidemeistermarie} plagt sich mit Transformationen, die Graphiker mit Skizzen und Ogden\IN{\ogden} zahlt matt. Aber er hat halt selber nix, wie wir alle \ldots\ so ists eben im Leben. Sonst lebt man dahin, wir hoffen, mal von Euch beiden einen Privatbrief zu kriegen, der von Sonne und Menschen erzählt. Wie steht es mit Franks\IN{\frankphilipp} Bein? Was treibt Hanja\IN{\frankphilippfrau}, wir hören fast nichts von den beiden. Wie man ja überhaupt allmählig verinselt -- abgesehen von den neuen Fäden, die sich anspinnen. Mit guten Grüßen und vielen Wünschen } \grussformel{ON} \briefanhang{NB. Über Bavink\IN{\bavink} schreib ich Dir noch. Dir setzt er übel zu. Es kommt nichts heraus, wenn man solchen Leuten nett schreibt. Schon ärgere ich mich, daß ich an Oskar Kraus\IN{\krausoskar} nett schrieb.\fnEE{Die Korrespondenz zwischen Neurath und Oskar Kraus ist veröffentlicht in Binder, ,,Sehr geehrter Herr Doktor! Sehr geehrter Herr Professor!\grqq.} Er soll sich ja sehr schlimm geäußert haben.}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/812273}{RC 029-09-65 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Prof. Rudolf Carnap\,/\,Prag} und \original{30.\,III.\,35}.}