\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 16.~März 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 16. März 1935}{März 1935}\labelcn{1935-03-16-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{\cutcn{Eben kam ein Telegramm von Rougier\IN{\rougier} (nach einem sehr traurigen Brief), daß seine Frau\IN{\rougierfrau} nach einer Operation gestorben ist, er bittet, die Kongreßvorbereitungen zu stoppen. Ich verstehe ihn völlig. Aber nun ist alles schon recht weit fortgeschritten, viele Stellen sind informiert, Propaganda für Paris zu machen. Die Erkenntnispublikation\II{\erkenntnis} erfolgt wesentlich in Hinblick darauf. Ich würde meinen, daß Ihr mich beauftragt, ihm sehr nahezulegen, \gesperrt{so bescheiden es geht, die Zusammenkunft in Paris} zu gestalten. Ich bin ganz Deiner Meinung, es kommt auf die Teilnehmer an. Über das Datum wurde so viel debattiert. Rougier\IN{\rougier} hat \gesperrt{entschieden} erklärt, daß vor dem 15.~Sept. wir \gesperrt{keine Franzosen} beim Kongreß\II{\pariserkongress} haben werden. Anfang Sept. sei in Paris \gesperrt{ganz} ungünstig, auch klimatisch schlecht usw. Reichenbach\IN{\reichenbach} hat sich deshalb mit diesem Termin auch einverstanden erklärt, obgleich es ihm schlecht paßt. Er muß am 1.~Okt. wieder in Asien sein. Vielleicht siehst Du die Korrespondenz daraufhin nochmals an. Ich persönlich habe in dieser Sache keinen Wunsch, mir würde früher auch passen. Ich werde Morris\IN{\morris}\IN{\morrisaspects} an Hempel\IN{\hempel} weitergeben.\fnE{Hempel verfasste eine ausführliche deutsche Inhaltsangabe, die im Anschluss an Morris, ,,Some Aspects of recent American Scientific Philosophy``, abgedruckt ist.} Das Kongreß-Programm\II{\pariserkongress} blieb so, wie es beschlossen war, mit der einzigen Änderung, daß, Deinem Wunsch entsprechend, \gesperrt{völlig unbesetzte halbe Tage} eingeschoben wurden. Ich sende Dir Abzug.\fnE{RC 029-09-68.} R\editor{ougier}\IN{\rougier} hat übrigens schon für seine Pariser Freunde Abzüge gemacht. Da am Inhalt \gesperrt{nichts} geändert wurde, habe ich die Tagesordnung nicht nochmal versendet, da die ,,FÜNF``\II{\fuenferkomitee} ohnehin durch Kongreß\II{\pariserkongress} überlastet scheinen, da ich entweder \gesperrt{keine} oder \gesperrt{sehr spärliche} Antworten bekomme. Ich mußte mich meist damit begnügen, mit R\editor{ougier}\IN{\rougier} mich zu einigen und auf alles, was die FÜNF\II{\fuenferkomitee} an Wünschen äußerten, möglichst einzugehen. \neueseite{}} Schade, daß Du zur Induktionsmaschine\IW{\reichenbachmaschine} Dich nicht äußern willst. Du siehst, daß alle das ihrige dadurch beitragen, daß sie bewußt auch Dinge anregen, die noch nicht ganz klar sind. Dadurch wird \gesperrt{viel} gefördert. Es hat seine Bedenken, wenn man bei allem auf die klassische Formulierung wartet. Besonders, wenn man die unklassischen eines Wittgenstein\IN{\wittgenstein} und anderer eigentlich ohne scharfen Protest hinnimmt. Aber schließlich ist das ja Deine Sache. Ich würde an Deiner Stelle wenigstens sagen, daß die Sache Dir nicht genügend geklärt scheint, daß man angeben müßte, innerhalb welcher näher zu bestimmender Grenzen man die Induktion allgemein im vorhinein festlegen könnte, in welchem Sinne aber sie offen bleibe usw. Aber schließlich, wie gesagt, ists Deine Sache. Wenn Du gegen Deine Stimmung etwas machst, ärgerts Dich vielleicht später. Jedenfalls halte ich \gesperrt{historisch} den Satz für falsch ,,ohne sie hat aber das ganze Gerede nicht viel Zweck``. Es hat z.\,B. den Zweck, daß jüngere Leute aufmerksam werden. Von Frank\IN{\frankphilipp} habe ich noch keinen Bericht über den Schlick-Zirkel\II{\schlickzirkel}. Das müßte bald ein Höllenbreughel\fnEE{Beiname von Pieter Brueghel dem Jüngeren.} beschreiben. Der große Ironiker W\editor{aismann}\IN{\waismann} kuddelmuddelt\fnA{\original{kudelmuddelt}} über Carnaps\incarnap{} Logik phänomenologische Quengeleien. Die sogenannten kühnen Recken, Menger\IN{\menger}, Tarski\IN{\tarski} usw. halten die Faust ans Schwert gepreßt, sind tief entrüstet, klirren ein wenig (nach innen) und achten die Heiligkeit des Erhabenen. Dann aber kommt schlicht, bieder und arglos, frei und frank unser Spezialist für ,,fallende Baumtiere (vulgo Katzen)`` und zerreißt den schnoddrigen Ironiker ,,in der Luft``. Der Erhabene, trotz seiner Prophetenstellung im Dienste Allahs (der aber fern ist), merkt das ,,innere Klirren``, scheut den Zerreißer und -- verrät den treuen Schildknappen, übrigens nicht zum erstenmal. Denn ehe der Hahn dreimal kräht \ldots\ Und \gesperrt{natürlich} ist er mit F\editor{rank}\IN{\frankphilipp} einig, und natürlich mit seinem Freund Carnap\incarnap{}, und natürlich \ldots\ natürlich \gesperrt{nicht} mit Neurath\inneurath{}, selbst wenn er dasselbe behaupten sollte wie F\editor{rank}\IN{\frankphilipp} und C\editor{arnap}\incarnap{}. Frank\IN{\frankphilipp} schrieb mir einmal ganz charakteristisch, er könne nicht glauben, daß Schlick\IN{\schlick} unsere Ablehnung der ,,wirklichen Welt`` ablehne, er habe doch immer zugestimmt. Ich habe von Schlicks\IN{\schlick} Haltung im Übergangsstadium zur Wittgensteinschen\IN{\wittgenstein} Metaphysik und Phänomenologie \gesperrt{den allerbetrüblichsten Eindruck}. Du bist so lieb, mir nachträglich meine ,,feine Nase`` zu attestieren. Pass auf, was ich Dir verkünde! Du wirst an Popper\IN{\popper}\IW{\popperldf} \gesperrt{wenig Freude erleben}. Er ist auf dem besten Weg, den schlechtesten Weg einzuschlagen. Erinnere Dich, wenn der Tag des Gerichtes kommen wird und schick mir dann wieder ein nettes Attest. Denn ich muß Dir leider attestieren, daß Du, der \ekl{Du} die logische Klarheit geordneter Dinge wundersam entfalten kannst -- ich lese Deine logische Syntax\IC{\logischesyntax}, selbst dort, wo sie mir zu schwer ist, mindestens wie die Geschichte von Aladins Wunderlampe, und immer mit der gleichen Spannung --, daß Du sehr wenig energisch gegen ziemlich deutliche Metaphysik protestierst. Ich denke an die Langmut Wittgenstein\IN{\wittgenstein} gegenüber. Ein trefflicher logischer Ausschnitt ist Dir so wertvoll, daß Du hundert Sünden gegen den Empirismus \neueseite{}\zzz zu verzeihen bereit bist. Ich wiederhole, daß ich Popper\IN{\popper} für durchaus wichtig nehme, daß ich aber die allerschwersten Bedenken schon gegen seine Grundhaltung habe, nicht nur gegen Einzelthesen. Das ist etwas Ähnliches wie Waismann\IN{\waismann}, nur in anderer Färbung. Es ist z.\,B. sehr charakteristisch, wie absolut begeistert Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} von P\editor{opper}\IN{\popper} ist. Der Phänomenologe riecht mit feiner Nase den, der irgendwie aus dem gleichen Stall ist. Und auch K\editor{aufmann}\IN{\kaufmannfelix} ist doch zweifellos ungemein klug, aber metaphysisch bis ins Mark seiner Röhrenknochen hinein. Es scheint mir wichtig, daß Du nicht Popper\IN{\popper} in Deiner Besprechung\IC{\rezensionpopper} mehr zugestehst, als unsereiner noch schlucken kann,\fnE{Erschienen als Carnap, ,,[Rezension von:] Popper, Karl, \textit{Logik der Forschung}``.} sonst muß man wie gegen Wittgenstein\IN{\wittgenstein} und Schlick\IN{\schlick} aufschreien als gequälte Kreatur. Und ich bin so für Friede und Eintracht und möchte P\editor{opper}\IN{\popper} so gern fördern. Ich habe natürlich, nachdem es mal geschehen ist, nichts dagegen, daß G\editor{relling}\IN{\grelling}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Grelling}}.} unsere beiden Hefte\IW{\neuratheinheitswissenschaftbuch}\IC{\aufgabederlogik} bespricht\IW{\grellingrezensioneinheitswiss}.\fnEE{Grelling, ,,[Rezension von:] \textit{Einheitswissenschaft}``.} Daß aber G\editor{relling}\IN{\grelling}, der gerade in der Gesamthaltung \gesperrt{gar nicht auf unserer Seite steht} (z.\,B. auf der Seite Schlicks\IN{\schlick} mehr gegen mich eingestellt ist), etwas bespricht, was sozusagen ein Eingehen auf die Richtung erfordert, in der wir uns bewegen, ist natürlich schade. Mein Heft 1\IW{\neuratheinheitswissenschaftbuch} ist dadurch wertvoll, daß es die \gesperrt{positiven} Programmpunkte bringt, die z.\,B. Hempel\IN{\hempel} in London\II{\londonforum} explicierte\IW{\hempeltheoryoftruth},\fnE{Hempel, ,,On the Logical Positivists' Theory of Truth``, wurzelt in einem Londoner Vortrag; vgl. dazu oben, Brief Nr.~\refcn{1934-12-26-Neurath-Hahn-an-Carnap_Ina}.} die Ablehnung von Wittgenstein\IN{\wittgenstein} usw. Ich fürchte, alles das wird in der G\editor{relling-}Besprechung\IW{\grellingrezensioneinheitswiss}\IN{\grelling} untergehn. Hat er sich je für Psychologie interessiert? Hempel\IN{\hempel} ist jetzt ,,psychologisch`` einigermaßen durch die Arbeit für O\ekl{ppenheim}\IN{\oppenheim} informiert.\fnEE{Hempel arbeitete zu dieser Zeit (und auch später noch) mit Paul Oppenheim zusammen, was zu mehreren gemeinsamen Publikationen führte; zur angesprochenen Thematik vgl. Hempels 1935 erschienene Arbeit ,,Analyse logique de la psychologie``.} Ein ausführlicher Briefwechsel mit G\editor{relling}\IN{\grelling} über Nationalökonomie, den ich jetzt habe, zeigt mir, wie fremdartig er alles anpackt, wie traditionell. Fries\IN{\fries}, Nelson\IN{\nelsonleonard}, Oppenheim\IN{\oppenheim} usw., das verdaut man nicht so rasch, davon bleibt viel übrig. Aber, wie gesagt, geschehn sei geschehn. Man darf so was nicht nachträglich ändern, als ob man eine Besprechung durch einen ehrenwerten Denker wie G\editor{relling}\IN{\grelling} scheuen müßte. Aber G\editor{relling}\IN{\grelling} steht im Verhältnis zu H\editor{empel}\IN{\hempel} von uns \gesperrt{weit ab}. Ich habe bei H\editor{empel}\IN{\hempel}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Hempel}}.} den Eindruck, daß er irgendwie durch Wittgenstein\IN{\wittgenstein} sehr beeindruckt ist. Er hat in seiner letzten Besprechung\IW{\hempeltheoryoftruth} es beinahe so dargestellt, als ob der Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} gewissermaßen von W\editor{ittgenstein}\IN{\wittgenstein} ausgeht.\fnE{Hempel, ,,On the Logical Positivists' Theory of Truth``.} Was ist denn Deine Meinung hierüber? Mir ist jede Aussprache über diese Dinge wichtig, weil ich ja hier arg isoliert sitze, und, was Du z.\,B. mir drüber schreibst, vielleicht 30\,\% von dem ausmacht, was ich hierüber überhaupt höre, während sonst, infolge der ,,scientistischen`` Atmosphäre, jedes Gespräch, jeder Brief höchstens 5\,\% von dem ausmachte, was man pro Vierteljahr an Eindrücken empfing. \cutcn{Was die Vorveröffentlichung der Vorträge anlangt, so warst Du mit uns der Meinung, daß man die Vorträge \gesperrt{kurz} machen solle, damit Zeit für die Diskussionen bleibe, die vorher gedruckten Berichte sollten \gesperrt{länger sein}. Der Vortrag als \gesperrt{Auszug} aus dem Bericht. Und das soll doch wohl so bleiben. Nur fragt es sich, ob die Erkenntnis\II{\erkenntnis} hiefür das geeignete Organ ist, weil wir sie damit \gesperrt{überlasten}. Ich überlege so, daß man in der Erkenntnis\II{\erkenntnis} \gesperrt{kurze} Inhaltsangaben bringt in deutscher Sprache (das ist dann gleichzeitig die \neueseite{}\zzz auszugsweise Übersetzung der fremdsprachigen Materialien, die in Paris vorgelegt werden. Die Franzosen werden wohl von allem eine kurze franz\editor{ösische} Übersetzung machen, und die Engländer wohl für ein amerikanisches Blatt, wenn wir nicht mit England zu einer Vereinbarung kommen. Aber durch Rougiers\IN{\rougier} Lage wird vielleicht dieser Teil der Vorbereitung sehr eingeengt und wir werden froh sein, von jedem Referat in seiner Sprache den Volltext bringen zu können. Rougier\IN{\rougier} hofft, einen französischen Verlag zu bekommen. Lévy-Bruhl\IN{\levybruhl} wird also ins große Komitee hineingenommen. Ich schreibe ihm gleich. Seine Auffassung, daß die Naturvölker eine absonderliche Logik haben, teile ich gar nicht -- aber das ist ja auch unnötig. Ich stimme für Lévy-Bruhl\IN{\levybruhl}. Ich habe die Liste noch, die Du so lieb mir geschickt hast, für Ergänzung wäre ich sehr verbunden, wenn Du aber die ganze Liste nochmals anfertigen läßt oder noch eine gute Kopie hast, wärs mir lieb, sie nochmals zu kriegen; im Lauf der Zeit ist sie räudig geworden. Bin sehr für Woodger\IN{\woodger}. Ich meine, es ist \gesperrt{dringend} nötig, daß R\editor{ougier}\IN{\rougier}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(Rougier)}}.} bald nach Paris kommt. Im Juni kriegt er von niemandem mehr Geld und Unterstützung. Die Menschen disponieren doch jetzt schon über Zeit, Säle, Mittel. Er muß doch alles arrangieren, daß es, wenn auch noch so bescheiden ausgeführt, gut klappt. Auch ists immer schlecht, wenn man jemandem etwas, das er für nötig hält, nicht gewährt, weil man dadurch mitverantwortlich wird, wenns schlecht geht. Ich habe meine Verantwortung auf die Einladungen und die nichtfranzösische Propaganda beschränkt. Alles andere ist Rougiers\IN{\rougier} Sache. Erst wenn etwas offenbar schief geht, müßten wir eingreifen. Das ist nun mal so in der Welt. Mir sind ja auch 3000 Frcs viel Geld -- aber es ist \ekl{eine} bescheidene Reisesumme. Radakovic\IN{\radakovic} habe ich drin, weil wir ihn früher drin hatten, und da er inzwischen nicht gesündigt hat, könnte man nur daraus, daß er nicht ,,international`` genug ist, seine Streichung ableiten. Da aber Reichenbach\IN{\reichenbach} sehr warm für all seine jungen Kücken eingetreten ist, ich konnte nur die weglassen, die noch gar nichts publiziert haben (er schrieb, daß einer mit Lewis\IN{\lewis} wegen Publikation unterhandelt usw.).\fnA{Unvollständiger Satz.} Erinnere Dich, wie Ihr früher sogar dafür wart, Natkin\IN{\natkin} aufzunehmen. Ich bin für etwas Kontinuität. Du wirst sehn, daß ich alles möglichst lasse. Selbst Waismann\IN{\waismann} wird man noch lange anführen, obgleich er sicher nicht mehr zu uns gehört und uns viel Leid bereiten wird. Frank\IN{\frankphilipp} hat Mskpt\IW{\franke} noch nicht abgeliefert, aber feierlich versprochen, es zu tun. Ich will ihn aber dort weglassen, wenn bis dahin das Mskpt\IW{\franke} nicht da ist. Es wird ja im Mai bereits gedruckt. Er soll Nr.~4, ich\IW{\neurathwirtschaftswiss} Nr.~5 werden.\fnE{Letztlich erschien Neurath, \textit{Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?} als Nr.~4 der Reihe \textit{Einheitswissenschaft}, Frank, \textit{Das Ende der mechanistischen Physik}, als Nr.~5.} Ich schreibe meine Sache, so reinlich und unemotionell, wie es nur möglich ist -- schon in Hinblick darauf, wo es erscheinen muß!} Schreib bald wieder. Es ist für unsereins sehr wichtig, Briefe zu kriegen. Grüß mir Ina\IN{\ina}. Was macht das Daumele?\fnSE{Ina Carnap hatte sich den Daumen gebrochen.}\fnE{Gemeint ist der gebrochene Daumen von Ina Carnap; vgl. oben, Brief Nr.~\refcn{1935-03-08-Carnap-Ina-an-Neurath}.} Gruß von Olga\IN{\neuratholga}. Gruß} \grussformel{Dein\\ON}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/812729}{RC 029-09-70 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Herrn Prof. Carnap\,/\,Prag} und \original{16.\,III.\,35}.}