Neurath an Carnap, Den Haag, 16. März 1935 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 16. März 1935 März 1935

Lieber Carnap!

Schade, daß Du zur InduktionsmaschineBReichenbach, Hans!„Zur Induktionsmaschine“, in Erkenntnis 5 1935 Dich nicht äußern willst. Du siehst, daß alle das ihrige dadurch beitragen, daß sie bewußt auch Dinge anregen, die noch nicht ganz klar sind. Dadurch wird viel gefördert. Es hat seine Bedenken, wenn man bei allem auf die klassische Formulierung wartet. Besonders, wenn man die unklassischen eines WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph und anderer eigentlich ohne scharfen Protest hinnimmt. Aber schließlich ist das ja Deine Sache. Ich würde an Deiner Stelle wenigstens sagen, daß die Sache Dir nicht genügend geklärt scheint, daß man angeben müßte, innerhalb welcher näher zu bestimmender Grenzen man die Induktion allgemein im vorhinein festlegen könnte, in welchem Sinne aber sie offen bleibe usw. Aber schließlich, wie gesagt, ists Deine Sache. Wenn Du gegen Deine Stimmung etwas machst, ärgerts Dich vielleicht später. Jedenfalls halte ich historisch den Satz für falsch „ohne sie hat aber das ganze Gerede nicht viel Zweck“. Es hat z. B. den Zweck, daß jüngere Leute aufmerksam werden.

Von FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank habe ich noch keinen Bericht über den Schlick-ZirkelISchlick-Zirkel, Wiener Kreis. Das müßte bald ein Höllenbreughel beschreiben. Der große Ironiker WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann kuddelmuddeltakudelmuddelt über Carnaps Logik phänomenologische Quengeleien. Die sogenannten kühnen Recken, MengerPMenger, Karl, 1902–1985, öst.-am. Mathematiker, verh. mit Hilda Menger, TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker usw. halten die Faust ans Schwert gepreßt, sind tief entrüstet, klirren ein wenig (nach innen) und achten die Heiligkeit des Erhabenen. Dann aber kommt schlicht, bieder und arglos, frei und frank unser Spezialist für „fallende Baumtiere (vulgo Katzen)“ und zerreißt den schnoddrigen Ironiker „in der Luft“. Der Erhabene, trotz seiner Prophetenstellung im Dienste Allahs (der aber fern ist), merkt das „innere Klirren“, scheut den Zerreißer und – verrät den treuen Schildknappen, übrigens nicht zum erstenmal. Denn ehe der Hahn dreimal kräht …Und natürlich ist er mit FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank einig, und natürlich mit seinem Freund Carnap, und natürlich …natürlich nicht mit Neurath, selbst wenn er dasselbe behaupten sollte wie FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank und Carnap. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank schrieb mir einmal ganz charakteristisch, er könne nicht glauben, daß SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick unsere Ablehnung der „wirklichen Welt“ ablehne, er habe doch immer zugestimmt. Ich habe von SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Haltung im Übergangsstadium zur WittgensteinschenPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph Metaphysik und Phänomenologie den allerbetrüblichsten Eindruck.

Du bist so lieb, mir nachträglich meine „feine Nase“ zu attestieren. Pass auf, was ich Dir verkünde! Du wirst an PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine PopperBPopper, Karl R.!1935@Logik der Forschung, Wien, 1935wenig Freude erleben. Er ist auf dem besten Weg, den schlechtesten Weg einzuschlagen. Erinnere Dich, wenn der Tag des Gerichtes kommen wird und schick mir dann wieder ein nettes Attest. Denn ich muß Dir leider attestieren, daß Du, der Du die logische Klarheit geordneter Dinge wundersam entfalten kannst – ich lese Deine logische SyntaxB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934, selbst dort, wo sie mir zu schwer ist, mindestens wie die Geschichte von Aladins Wunderlampe, und immer mit der gleichen Spannung –, daß Du sehr wenig energisch gegen ziemlich deutliche Metaphysik protestierst. Ich denke an die Langmut WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph gegenüber. Ein trefflicher logischer Ausschnitt ist Dir so wertvoll, daß Du hundert Sünden gegen den Empirismus 🕮{}zu verzeihen bereit bist. Ich wiederhole, daß ich PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper für durchaus wichtig nehme, daß ich aber die allerschwersten Bedenken schon gegen seine Grundhaltung habe, nicht nur gegen Einzelthesen. Das ist etwas Ähnliches wie WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann, nur in anderer Färbung. Es ist z. B. sehr charakteristisch, wie absolut begeistert KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph von PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper ist. Der Phänomenologe riecht mit feiner Nase den, der irgendwie aus dem gleichen Stall ist. Und auch KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph ist doch zweifellos ungemein klug, aber metaphysisch bis ins Mark seiner Röhrenknochen hinein. Es scheint mir wichtig, daß Du nicht PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper in Deiner BesprechungB1935@„Rezension von Karl Popper, Logik der Forschung“, Erkenntnis 5, 1935, 290–294 mehr zugestehst, als unsereiner noch schlucken kann‚3Erschienen als Carnap, „[Rezension von:] Popper, Karl, Logik der Forschung“. sonst muß man wie gegen WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph und SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick aufschreien als gequälte Kreatur. Und ich bin so für Friede und Eintracht und möchte PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper so gern fördern.

Ich habe natürlich, nachdem es mal geschehen ist, nichts dagegen, daß GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. PhilosophaKsl. Grelling. unsere beiden HefteBNeurath, Otto!1933@„Einheitswissenschaft und Psychologie“, = Einheitswissenschaft 1, 1933B1934@„Die Aufgabe der Wissenschaftslogik“, Einheitswissenschaft Heft 3, 1934 besprichtBGrelling, Kurt!„Rezension von Einheitswissenschaft. Schriften herausgegeben von Otto Neurath in Verbindung mit Rudolf Carnap, Philipp Frank, Hans Hahn“, Erkenntnis 5, 1935, 371–374. Daß aber GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph, der gerade in der Gesamthaltung gar nicht auf unserer Seite steht (z. B. auf der Seite SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick mehr gegen mich eingestellt ist), etwas bespricht, was sozusagen ein Eingehen auf die Richtung erfordert, in der wir uns bewegen, ist natürlich schade. Mein Heft 1BNeurath, Otto!1933@„Einheitswissenschaft und Psychologie“, = Einheitswissenschaft 1, 1933 ist dadurch wertvoll, daß es die positiven Programmpunkte bringt, die z. B. HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel in LondonIDiese informelle Veranstaltung fand am 5. und 6. Jänner 1935 im Haus von Susan Stebbing statt. Hempels Vortrag ist publiziert als Hempel, „On the Logical Positivist’s Theory of Truth“; zu dieser Veranstaltung siehe auch Stadler, Der Wiener Kreis, S. 177. explicierteBHempel, Carl Gustav!1935@„On the Logical Positivists’ Theory of Truth“, Analysis 2, 1935, 49–594Hempel, „On the Logical Positivists’ Theory of Truth“, wurzelt in einem Londoner Vortrag; vgl. dazu oben, Brief Nr. . die Ablehnung von WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph usw. Ich fürchte, alles das wird in der Grelling-BesprechungBGrelling, Kurt!„Rezension von Einheitswissenschaft. Schriften herausgegeben von Otto Neurath in Verbindung mit Rudolf Carnap, Philipp Frank, Hans Hahn“, Erkenntnis 5, 1935, 371–374PGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph untergehn. Hat er sich je für Psychologie interessiert? HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel ist jetzt „psychologisch“ einigermaßen durch die Arbeit für OppenheimPOppenheim, Paul, 1885–1977, dt.-am. Industrieller und Philosoph, verh. mit Gabrielle Oppenheim informiert. Ein ausführlicher Briefwechsel mit GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph über Nationalökonomie, den ich jetzt habe, zeigt mir, wie fremdartig er alles anpackt, wie traditionell. FriesPFries, Jakob Friedrich 1773–1843, NelsonPNelson, Leonard, 1882–1927, dt. Philosoph, OppenheimPOppenheim, Paul, 1885–1977, dt.-am. Industrieller und Philosoph, verh. mit Gabrielle Oppenheim usw., das verdaut man nicht so rasch, davon bleibt viel übrig. Aber, wie gesagt, geschehn sei geschehn. Man darf so was nicht nachträglich ändern, als ob man eine Besprechung durch einen ehrenwerten Denker wie GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph scheuen müßte. Aber GrellingPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph steht im Verhältnis zu HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel von uns weit ab. Ich habe bei HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva HempelbKsl. Hempel. den Eindruck, daß er irgendwie durch WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph sehr beeindruckt ist. Er hat in seiner letzten BesprechungBHempel, Carl Gustav!1935@„On the Logical Positivists’ Theory of Truth“, Analysis 2, 1935, 49–59 es beinahe so dargestellt, als ob der Wiener KreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis gewissermaßen von WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph ausgeht.5Hempel, „On the Logical Positivists’ Theory of Truth“. Was ist denn Deine Meinung hierüber? Mir ist jede Aussprache über diese Dinge wichtig, weil ich ja hier arg isoliert sitze, und, was Du z. B. mir drüber schreibst, vielleicht 30 % von dem ausmacht, was ich hierüber überhaupt höre, während sonst, infolge der „scientistischen“ Atmosphäre, jedes Gespräch, jeder Brief höchstens 5 % von dem ausmachte, was man pro Vierteljahr an Eindrücken empfing.

Schreib bald wieder. Es ist für unsereins sehr wichtig, Briefe zu kriegen. Grüß mir InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap. Was macht das Daumele?1Ina Carnap hatte sich den Daumen gebrochen.7Gemeint ist der gebrochene Daumen von Ina Carnap; vgl. oben, Brief Nr. . Gruß von OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn.

Gruß

Dein
ON

Brief, msl., 4 Seiten, RC 029-09-70 (Dsl. ON 220); Briefkopf: gedr. Mundaneum Institute The Hague mit näheren Angaben, msl. Herrn Prof. Carnap\,/\,Prag und 16. III. 35.


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