Endlich komme ich dazu, diesen immer wieder verschobenen Brief an Sie abzufassen, der sich Ihnen nun als Vierteljahrsbericht präsentiert. Zunächst danke ich Ihnen sehr für die Zusendung ihres Antinomien-AufsatzesB1934@„Die Antinomien und die Unvollständigkeit der Mathematik“, Monatshefte für Mathematik 41 (1), 1934, 263-284 und für Ihre Karte von der Schlesischen Baude. Das Geld ist damals sehr pünktlich und vollzählig eingetroffen.
Nun zunächst eine Frage: In meiner BesprechungB Ihrer SyntaxB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 habe ich behauptet, daß eine in der Syntaxsprache aufgebaute Modalitätslogik gewisse Deutungsschwierigkeiten zum Verschwinden bringt, die auftreten, wenn man die bisher aufgestellten mehrwertigen Satzkalküle in der üblichen Weise modalitätstheoretisch deutet. Ich hatte damit insbesondere gemeint, daß die syntaktische Modalitätslogik die Wertetafeln des dreiwertigen LUKASIEWICZPLukasiewicz, Jan@Łukasiewicz, Jan, 1878–1956, poln. Philosoph, verh. mit Regina Łukasiewicz-Kalküls – an den ich zunächst gedacht hatte, da er der einzige mehrwertige Kalkül ist, der mir vertraut ist – erfüllt. Ich hatte mir das aber nicht gründlich überlegt und habe bald eingesehen, daß ich mich geirrt hatte und daß Ihr Übersetzungsvorschlag für „möglich“ für die aussagenlogischen Verbindungen (Konjunktion, Implikation. Äquivalenz) zweier „möglicher“ Sätze nicht generell die [bei] LUKASIEWICZPLukasiewicz, Jan@Łukasiewicz, Jan, 1878–1956, poln. Philosoph, verh. mit Regina Łukasiewicz angegebenen „Aussagewerte“ liefert.
Ebensowenig genügen andere Kombinationen der syntaktischen Prädikate den Wertetafeln von LUKASIEWICZPLukasiewicz, Jan@Łukasiewicz, Jan, 1878–1956, poln. Philosoph, verh. mit Regina Łukasiewicz. Dies scheint mir eine ganz grundsätzliche Schwierigkeit, die darauf beruht, daß die Aussageverknüpfungen von Möglichkeitsaussagen im allgemeinen keine Wahrheitsfunktionen der Verknüpfungsbestandteile sind. Sie besteht daher auch für die LEWISschePLewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. Philosoph Logik, da sie durch Wertetafeln erfaßt werden kann. – Nun treten dieselben Schwierigkeiten auf, wenn man versucht, die mehrwertigen Logiken mit Hilfe des inhaltlichen Möglichkeitsbegriffs zu deuten. Ich sehe den Wert Ihrer Übersetzungen der Modalitäten in syntaktische Begriffe daher darin, daß sie eine präzise Erfassung der inhaltlichen Modalitätsbegriffe ermöglichen. Zur Interpretation der mehrwertigen Kalküle scheinen mir die inhaltlichen und Ihre syntaktischen Modalitäten gleichermaßen ungeeignet. Wie denken Sie darüber?
Nun ein paar Mitteilungen: Die [z]weite Hälfte des vergangenen Wintersemesters ist für mich sehr unruhig verlaufen, sodaß ich die Extremalaxiome nicht sehr wesentlich habe fördern können. Vor Weihnachten habe ich mich mit Unabhängigkeit von Axiomen in ASen, die durch ein Extremalaxiom abgeschlossen sind, und mit der „Verschiebbarkeit“ von Axiomen in solchen ASen beschäftigt. Jetzt bin ich aber an die Förderung dieser Dinge gegangen und habe zunächst eine allgemeine Anschreibung für die q-stufige Isomorphie ausgedacht. Ich hoffe, bis zum 1. April den AufsatzB im Rohbau fertig zu stellen, da ich im Sommersemester in Marburg bei REIDEMEISTERPReidemeister, Kurt, 1893–1971, dt.-öst. Mathematiker, Bruder von Marie Reidemeister Geometrie arbeiten möchte. Im Augenblick bin ich zudem sehr stark durch die Doktoranden von SCHOLZPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph in Anspruch genommen, die bis Ostern fertig werden wollen. Es werden daher innerhalb des nächsten halben Jahres in den SCHOLZschen For🕮schungen zur Logistik die drei Arbeiten
H. SCHWEITZERP, Die Theorie der sog. Definitionen durch Abstraktionsklassen und –relationenB
E. ROTHPRoth, Eugen, Dissertant von Heinrich Scholz, Axiomatische Untersuchungen zur projektiven, affinen und metrischen GeometrieB
W. KINDERP, Die reellen Zahlen in logistischer KonstituierungP
erscheinen. SCHOLZPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph selbst ist leider wieder zu einer vierwöchigen Liegekur gezwungen. In den vergangenen Wochen habe ich versucht, nach Kräften für die Verbreitung der Gedanken Ihrer „Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 zu sorgen und in Marburg im Mathematischen KolloquiumIMathematisches Kolloquium Marburg, in Göttingen in einer Vortragsreihe der Mathematischen FachschaftI und hier in Münster vor den versammelten Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Schulmännern der ProvinzI in gewissen Variationen über das Thema: Gibt es unentscheidbare mathematische Sätze? (ein Ragout aus GÖDELsPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker AufsatzB in Ihrer FassungB und Ihren beiden AufsätzenB1934@„Die Antinomien und die Unvollständigkeit der Mathematik“, Monatshefte für Mathematik 41 (1), 1934, 263-284B1935@„Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen Mathematik“, Monatshefte für Mathematik und Physik 42 (1), 1935, 163–190 in den MonatsheftenIMonatshefte für Mathematik und Physik, Zeitschrift) vorgetragen. Es hat mir viel Spaß gemacht, aber die Reaktionen des deutschen Menschen aus dem Jahre III des dritten Reiches auf diese Dinge können sehr merkwürdig sein. Die Enzyklopädie der Mathematischen WissenschaftenIEnzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften wird allmählich neu aufgelegt. Der erste Band über Algebra soll auch einen ArtikelB über mathematische Logik und Grundlagenforschung enthalten, den SCHOLZPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph und ich übernehmen werden. Außerdem wird der von FREGEPFrege, Gottlob, 1848–1925, dt. Mathematiker und Philosoph so scharf angegriffene ArtikelB von SCHUBERTP über die Zahlen neu vergeben. Ob wir ihn auch erhalten, ist noch ungewiß. Herr BERNAYSPBernays, Paul, 1888–1977, dt.-schweiz. Mathematiker hat mir auf meine Blätter „Frege als konstruktiver Logizist“B sehr ausführlich geantwortet. Er macht mich nochmals auf den CHURCHPChurch, Alonzo, 1903–1995, am. Mathematiker aufmerksam. Sie sagten damals, die Arbeit von CHURCHPChurch, Alonzo, 1903–1995, am. Mathematiker enthielte einen Widerspruch. Nun gibt es aber außer der in Ihrer „Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 genannten Arbeit ein second paper von 1933B. Bezog sich Ihre Bemerkung auch auf die in diesem durchgeführte Modifikation? Sie wissen, daß ich schon lange auf der Jagd nach Druckfehlern in der „Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 war. Endlich habe ich einen wesentlichen und einen unwesentlichen entdeckt. S. 92 hinter dem GÖDELschenPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker Satz fehlt ‚“, S. VII 2. Zeile fehlt ‚)‘. Sie werden auch inzwischen die ArbeitB von HELMERPHelmer, Olaf, 1910–2011, dt.-am. Mathematiker und Philosoph, verh. mit Eileen Helmer, danach mit Helen Mary Helmer erhalten haben; ich schicke Ihnen den Durchschlag eines Briefes an ihn mit, der Sie vielleicht wegen des Vollständigkeitsaxioms interessieren wird. HEMPELPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel hat uns vorgestern auf dem Weg nach Brüssel besucht. Können Sie uns Genaueres über den Pariser Kongreß für die Einheit der WissenschaftIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 im September mitteilen? SCHOLZPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph, BECKERPBecker-Freyseng, Albrecht, *1904, dt. Mathematiker und ich würden gern hinfahren. Sind wohl noch Vorträge zu vergeben? Das wäre für uns wegen der Devisenzuteilung und der Möglichkeit, uns um Reisezuschüsse bewerben zu können, wichtig. Ihre FrauPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap ist nun hoffentlich im Vollbesitze einer voll leistungsfähigen Uhr; ich muß zu dem Fall noch Folgendes nachholen: nach meinem Uhrmacher ist die Behauptung seines Prager Kollegen, er habe die Feder ausgewechselt, gelogen. Federn auswechseln sei ausgesprochene Spezialarbeit, an die man bei so kleinen Werken nur Leute mit entsprechenden Maschinen und zehnjähriger Erfahrung heranließe. Wenn der Prager Mann es versucht hätte, würde er acht Tage daran gesessen haben und doch einen Fehler von einigen Minuten pro Tag nicht haben eliminieren können.
Ich lege Ihnen ein Exemplar meines ArtikelsB zu ScholzensPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph 50. Geburtstag bei. Leider mußte er unter sehr starkem Druck fertiggestellt werden. Grüßen Sie bitte Ihre FrauPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap von mir; den NEURATHPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath hat BECKER 🕮 mir schon seit Wochen entführt, hoffentlich wird er noch nicht vermißt, ich werde für seine baldige Rückkehr nach Prag sorgen. Als Komplement schicke ich zwei AufsätzeBB von SCHOLZPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph mit, die ich gelegentlich zurückzuschicken bitte.
Mit freundlichen Grüßen