\brief{Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 14. Februar 1935}{Februar 1935} %14. 2. 1935. %Herrn Prof. Dr. Rudolf Carnap %Prag, XVII., Pod Homolkou 146 \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{besten Dank für Ihren Brief vom 1.\,2.\,35. Ich freue mich sehr, daß Sie meine Wahrscheinlichkeits-Lehre\IW{\reichenbachwahrscheinlichkeit} so genau lesen und anscheinend in Vielem einverstanden sind. Sie haben ganz recht, es kommt jetzt für uns alle sehr darauf an, konkrete Systemvorschläge auszuarbeiten; man sollte allgemeine Erörterungen auch bei unseren Problemen immer erst hinterher machen, sonst besteht die Gefahr, daß man in das gleiche oberflächliche Fahrwasser kommt, wie die Schulphilosophen. Es wird mich sehr interessieren, Ihre Bedenken wegen der symbolischen Technik kennenzulernen. Ich selbst habe das Gefühl, daß mit meinem Buch\IW{\reichenbachwahrscheinlichkeit} die prinzipiellen Fragen der Wahrscheinlichkeit für mich abgeschlossen sind; mit der Auflösung, die ich für das Induktions-Problem gebe, scheint mir die letzte Schwierigkeit beseitigt zu sein, die noch für eine metaphysikfreie Erkenntnistheorie bestand. Denn es stellt sich bei meiner Auflösung heraus, daß das Induktions-Prinzip keine Annahme über die Natur bedeutet, sondern ein Approximations-Verfahren; und der Gedanke, daß dieses Verfahren eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die wissenschaftliche Erkenntnis darstellt, erscheint mir als eine völlig befriedigende Rechtfertigung. Denn er zwingt uns einerseits, das Prinzip zu benutzen, andererseits aber enthebt er uns der Vorstellung, daß das Induktions-Prinzip irgend einen Glauben über Eigenschaften der Natur enthält. Das Buch\IW{\popperldf} von Popper\IN{\popper} wollte ich nicht nur wegen des Ab\neueseite{}schnitts über Wahrscheinlichkeit besprechen, sondern auch wegen der ganzen übrigen Sachen, da es ja hauptsächlich von der Induktion handelt. Aber da Sie ja Popper\IN{\popper} näherstehen, so will ich Ihnen das gern überlassen. Ich möchte aber dann meine Entgegnung\IW{} in der Form eines Aufsatzes in der Erkenntnis\II{\erkenntnis} darlegen. Deswegen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir das Besprechungs-Exemplar überlassen könnten, da Sie vermutlich von Popper\IN{\popper} direkt ein Exemplar erhalten haben. Übrigens bin ich über das Buch\IW{\popperldf} ziemlich entsetzt. Es ist außerordentlich naiv geschrieben; das Wenige, was richtig ist, ist nicht neu. Im Übrigen aber geht er mit einer Ahnungslosigkeit über Probleme hinweg, die heute eigentlich nicht mehr vorkommen dürfte; das mathematische Kapitel über Wahrscheinlichkeit ist vollständiger Unsinn. Für Neuraths\IN{\neurath} Vorschlag über das Doppelheft bin ich auch und habe schon an Neurath\IN{\neurath} und Meiner\IN{\meinerfelix} deswegen geschrieben. Rezensionen möchte ich in dies Heft lieber nicht hereinnehmen, sondern erst in das folgende. Kaila\IN{\kaila} will ich wegen der Rezension\IW{} über Bühler\IN{\buehlerkarl} einen Kürzungsvorschlag machen. Es ist schade, daß Sie gegen Jonas Cohns\IN{\rjcohn} Manuskript\IW{} sind. Ich glaube, gelegentlich sollte man mit solchen Leuten doch diskutieren, im Interesse des Leserkreises. Aber da Sie der am meisten Angegriffene sind, möchte ich Ihnen die Entscheidung in dieser Sache überlassen. Ich möchte Sie nur bitten, daß Sie dann selbst Cohn\IN{\rjcohn} abschreiben und ihm das Manuskript\IW{} zurückschicken. Mit Holzapfel\IN{} ist ein Mißverständnis passiert. Ich hatte angenommen, da ich inzwischen nichts von Ihnen gehört hatte, daß Sie mit der Annahme seines Artikels\IW{} in gekürzter Form einverstanden wären, und unter dem Eindruck seines Briefes über den Verlust seiner Stellung habe ich ihm geschrieben, daß ich von ihm ein Manuskript im Umfange von 20/25 Druckseiten anneh\neueseite{}men würde. Das ist immerhin eine erhebliche Kürzung, da sein ursprüngliches Manuskript etwa 40 Druckseiten umfasst. Ich warte noch auf seine Antwort. Wenn Holzapfel\IN{} durch die deutschen Verhältnisse in eine Gegend verschlagen würde, wo er mehr Fühlung mit Leuten unseres Kreises hätte, so wäre das ein Segen für ihn; denn er hat alle Schattenseiten des Einsiedlers an sich. Der Versuch würde jedenfalls lohnen. Ich schicke Ihnen Quine\IN{\quine} \IW{} und Dubislav\IN{\dubislav} \IW{} zur Besprechung\IC{\rezensiondubislavzwei} \IC{}. Wegen der übrigen Besprechungen schreibe ich noch. Ich habe mich kürzlich ausführlich mit Ihrer logischen Syntax\IC{\logischesyntax} beschäftigt und dabei auch die Protokollsatz-Diskussion noch einmal durchgesehen. Mir ist diese Weiterentwicklung Ihrer Ideen in Vielem sehr sympathisch, und es scheint mir, daß wir dadurch in unserer Auffassung des Realitäts-Problems wesentlich näher zusammenkommen. Darüber müssen wir auch einmal mündlich sprechen. Ihr Buch\IC{\logischesyntax} hat mir neben allem andern auch in bezug auf die Form der Darstellung sehr gefallen; ich finde Ihre vielen anschaulichen Beispiele sehr erfreulich. Viele herzliche Grüße} \grussformel{Ihr\\{}[Hans Reichenbach]} \ebericht{Brief, msl. \href{https://doi.org/10.48666/848414}{RC 102-64-06\blockade{davon aber nur 2 Seiten fotografiert, dehalb Transkription des Durchschlags.} (Dsl. HR 013-41-21)}; Briefkopf: msl. \original{14.\,2.\,1935 \,/\, Herrn Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Prag, XVII., Pod Homolkou 146}.}