\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Den Haag,} 9.~Februar 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 9. Februar 1935}{Februar 1935}\labelcn{1935-02-09-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Mit Deinem\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Psychologische Begriffe}}.} Artikel\IC{\franzoesischeraufsatz} bin ich sehr einverstanden.\fnEE{\labelcn{1935-02-09-Neurath-an-Carnap-Concepts}Deutsches Manuskript von Carnap, ,,Les concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncièrement différents?\grqq\ (\href{https://doi.org/10.48666/991024}{ON~380/R.14-1}). Die untenstehenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Manuskript.} Ich nehme an, daß das mit Hempels\IN{\hempel} Artikel\IW{\hempelanalyse}\fnEE{Hempel, ,,Analyse logique de la psychologie``; Carnaps Aufsatz nimmt Bezug auf diese Arbeit, beide erschienen in derselben Nummer von \textit{Revue de Synthèse}.} zusammen in Ergänzung alles früheren eine kräftige Wirkung üben wird. Von Hempel\IN{\hempel} halte ich viel. Hoffentlich erscheinen wir nicht \textkritik{in seinem Aufsatz\IW{\hempelanalyse}}\fnA{Hsl. Einschub.}, wie ein wenig in seinem Brüsseler Referat\IW{}, als eine Art Abspaltung von Wittgenstein\IN{\wittgenstein}.\fnE{Hempel, ,,On the Logical Positivist's Theory of Truth``.} ZU Deinem Artikel\IC{\franzoesischeraufsatz}. Ganz einverstanden. Der Schluß verblüffend und effektvoll. Die L\ekl{ogische} und P\ekl{hysikalische} Äquipollenz sehr gut. Weil Du \gesperrt{ausdrücklich} Bemerkungen haben willst: ich unterscheide, wenn ich meine, Carnap\incarnap{} sollte etwas nicht sagen, und wenn ich meine, Du müßtest sagen: ,,Neurath\inneurath{} würde sagen \ldots`` Was vielleicht gut wäre, um einerseits die Gemeinschaft, andererseits aber doch auch die Variante zu betonen. Aber gänzlich unwesentlich. Auf S.\,1 vielleicht besser so ,,These, die besagt, daß man die gesamte Wissenschaft in der Sprache der Physik formulieren kann, das heißt, man müßte jeden Satz der noch nicht physikalisch formulierten Gebiete, also auch \ldots`` Auf S.\,2 oben würde Neurath\inneurath{} sagen: ,,Wahrnehmungsätze``, zumal Du ja im folgenden Sätze auf Sätze beziehst und nicht auf ein Korrelat der ,,Wahrnehmung``. Wenn ,,Ich bin traurig`` ein Wahrnehmungssatz ist, müßte wohl ,,Ich sehe: hier ist ein Schlüssel`` als Wahrnehmungssatz auftreten. Ich meine von hier bis zum Schluß, daß zwei Betrachtungen zusammen auftreten, die beide in Ordnung sind, aber es wird nicht streng geschieden: \medskip {\small\begin{tabularx}{\textwidth}{rrll}\hspace{-10pt} A's Protokoll: & A nimmt auf Weise I & wahr: & A ist zornig\\ & II & & A ist zornig\\ und nun: & B nimmt \gesperrt{nur} auf Weise II & & A ist zornig\\ \end{tabularx}} \medskip \noindent Die beiden Arten I und II sind so wie Hören und Sehen verschieden. Und ich würde als ,,Neurath\inneurath{}`` nicht von ,,direkt`` und ,,indirekt`` sprechen. In der physikalischen Vereinheitlichung wird aus Sehen und Hören: Luftwellen I Lichtwellen IX. Und die sind \gesperrt{nicht} an spezifische Sinne gebunden, sondern ,,intersensual``. Aber die Wahrnehmung muß ,,spezifisch`` sein, wenn auch in physikalischer Terminologie. Es ist nach \gesperrt{Neurath}\inneurath{} so zu formulieren: Wahrnehmungsart I (,,innere``), Wahrnehmungsart II (,,äußere``), Verhalten I (Sprechen, Denken usw.), Verhalten II (Miene usw.). So ging ich, wie Du weißt, immer vor. Durch die ,,Kontrollsätze`` wird das \gesperrt{verwischt}, weil man die Protokollsätze zu eliminieren meint, während doch bei allen introspektiven Sätzen man nicht um die spezifischen Termini herumkommt, \gesperrt{wenn auch in physikalischer Sprache}. Vielleicht wärs gut, Du würdest andeuten, daß ich in dieser Richtung anders zu formulieren pflege.\fnEE{Für die Forderung, wonach in Protokollsätzen (neben dem Namen des Protokollierenden) Wahrnehmungstermini auftreten müssen, vgl. z.\,B. Neurath, ,,Protokollsätze``, 208\,/\,GphmS 580, oder Neurath, \textit{Einheitswissenschaft und Psychologie}, 6f.\,/\,GphmS 591.} Ich sehe nicht ohne Bedenken auf die antiempiristische Tendenz Poppers\IN{\popper}, die Protokollsätze beiseitezuschieben. Natürlich braucht man sie nicht immer, aber die Kontrollsätze des Empirismus \gesperrt{müssen} durch Protokollsätze \gesperrt{letzten} Endes kontrollierbar sein. Indem Du immer von ,,Kontrollsätzen`` sprichst und dann von ,,Wahrnehmungen``, ohne die Protokollsätze zu erwähnen, machst Du ein ganz klein wenig einem sich vorbereitenden Meta\neueseite{} physizismus die Mauer. Ein so herrlicher Töter metaphysischer Drachen Du andererseits bist. Erinnere Dich, wie früh ich bei Weyl\IN{\weyl}, Waismann\IN{\waismann}, Schlick\IN{\schlick}, Wittgenstein\IN{\wittgenstein} die antimetaphysische Walze einlegte. Ich tus jetzt bei Popper\IN{\popper} wieder. Ich sehe ganz davon ab, wie er für die Philosophen eintritt, die er gegen die Leute, welche er Positivisten nennt, zu Felde führt. (NB. Daß sein Buch\IW{\popperldf} in der Sammlung\II{\schriftenwisswelt} kam,\fnE{Popper, \textit{Logik der Forschung}, in der Reihe \textit{Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung}.} ist \gesperrt{durchaus} in Ordnung. Weniger, daß Du es inhaltlich stark zu decken scheinst. Es ist doch sogar Schlicks\IN{\schlick} Ethik\IW{\schlickethik}\fnE{Schlick, \textit{Fragen der Ethik}.} in der Sammlung\II{\schriftenwisswelt} erschienen. NB. vom NB. -- hast Du genauer gelesen, was Schlick\IN{\schlick} über Windelband\IN{\windelband}, Rickert\IN{\rickertkurz} und die Geschichtsschreibung sagt, die nichts lernen kann. Mit vollen Segeln kehrt er in den Mutterboden der BLUBO-Metaphysik\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(wo steht das?)}}.}\fnEE{\labelcn{1935-02-01-Neurath-an-Carnap-Blubo}Schlick, ,,Philosophie und Naturwissenschaft``, 392f. Zu Neuraths (und Carnaps) Kritik an Windelband und Rickert und deren BLUBO- (,,Blut-und-Boden``-)Metaphysik siehe Uebel, ,,{},BLUBO-Metaphysik`{}``.} zurück, natürlich nur partiell. Aber immerhin. Es ist erschütternd. Ich würde gerne einmal hören, was Du dazu wirklich \gesperrt{sagst}). Daher ist mir Deine Konzentration auf den Terminus Kontrollsatz bedenklich, nachdem in der logischen Syntax die lieben guten Protokollsätze wieder ein munteres Leben führen durften. Aus all dem folgt, daß mir der Terminus ,,direkt`` und ,,indirekt``\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(wo steht das?)}}.} wenig zusagt, auch nicht, was Du S.\,11 von ,,graduell`` und ,,Zwischenstufen`` sagst. Welcher Berg soll durch die ,,gradus`` erstiegen werden? Und zwischen welchem ,,oben`` und ,,unten`` sind die Stufen? Aber das ist ja nicht weiter tragisch. Ad S.\,9. Die Begriffsverdoppelung würde ich mit mehr Abneigung als Neurath gegen den ,,ps`` Teil versehen.\fnEE{In Carnaps Manuskript (9f.) wird anhand des Beispiels ,,Zorn`` die Annahme von zwei verschiedenen Zorn-Begriffen (,,Zorn\textsubscript{ps}`` und ,,Zorn\textsubscript{ph}``) abgelehnt.} Erinnere Dich an Heft 1 die Anekdote ,,Wo ist das Pferd?{}``\fnEE{Anekdote von einem orientalischen Fürsten, der, nachdem er eine detaillierte Erklärung der Funktionsweise eines Automobils erhalten hat, fragt, wo das Pferd steckt; vgl. Neurath, \textit{Einheitswissenschaft und Psychologie}, 27\,/\,GphmS 609.} Aber ich lasse Carnap\incarnap{}\ die Milde der Weisheit und das Toben mir. Ad S.\,11. \gesperrt{Carnap}\incarnap{} sollte schreiben ,,,Wirkungen‘ oder ,Symptome‘ des Zorns``. Bei ,,intersubjektiv`` würde \gesperrt{Neurath}\inneurath{} immer betonen, daß das auch bei \gesperrt{einer} Person schon gilt. Zumal C\editor{arnap}\incarnap{} einmal dazu neigte, ,,intersubjektiv`` bei Beziehungen zwischen zwei Personen zu verwenden.\fnEE{Vgl. Neurath, ,,Physikalismus``, 300f.\,/\,GphmS 419f., sowie ,,Protokollsätze``, 211f.\,/\,GphmS 582f.} Daher ist Neurath\inneurath{} da kitzlich. Aber Carnap\incarnap{} muß es nicht sein. Also: \gesperrt{ganz} besonders einverstanden. So viel ich sehe, gehst Du gegen den Standpunkt Waismann\IN{\waismann}, Schlick\IN{\schlick} usw. jetzt schärfer los als damals in Wien, da wir mit Waismann\IN{\waismann} zum Schottenring gingen und ich seine Hinrichtung durch Dich erwartete. %\fnEE{Gemeint ist vermutlich eine Diskussion auf der Straße im Anschluss an eine Zirkelsitzung; vgl. TB~10.\,7.\,1933\diaryref{TB-10-7-1933}.} Aber verwundert warst Du schon damals, als Du sahst, welche feine metaphysische Blasen im Hexenkessel unserer Wiener Gruppe\II{\schlickzirkel} auftreten \ldots\ und sie sind \gesperrt{sehr} stolz darauf. Die Phänomenologen haben ihre Freude daran. Weshalb ja auch Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} von Popper\IN{\popper} restlos begeistert scheint. Jetzt möchte ich nur wissen, ob wir auch unsere Metaphysik haben, aber sie nicht bemerken. Laß es Dir gut gehn. Schreibts mal ein bisserl. Wir leben halb mies, halb gut dahin. Mit besten Grüßen} \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/823539}{RC 029-09-87 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: msl. \original{9.\,II.\,35}.}