Neurath an Carnap, Den Haag‚ 9. Februar 1935 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 9. Februar 1935 Februar 1935

Lieber Carnap!

Mit DeinemaKsl. Psychologische Begriffe. ArtikelB1935@„Les Concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncièrement différent?“ Trad. par Robert Bouvier, Revue de synthèse 10 (1), 1935, 43–53 bin ich sehr einverstanden. Ich nehme an, daß das mit HempelsPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel ArtikelBHempel, Carl Gustav!„Analyse logique de la psychologie“, Revue de Synthese zusammen in Ergänzung alles früheren eine kräftige Wirkung üben wird. Von HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel halte ich viel. Hoffentlich erscheinen wir nicht in seinem AufsatzBHempel, Carl Gustav!„Analyse logique de la psychologie“, Revue de SyntheseaHsl. Einschub., wie ein wenig in seinem Brüsseler ReferatB, als eine Art Abspaltung von WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph.1Hempel, „On the Logical Positivist’s Theory of Truth“.

ZU Deinem ArtikelB1935@„Les Concepts psychologiques et les concepts physiques sont-ils foncièrement différent?“ Trad. par Robert Bouvier, Revue de synthèse 10 (1), 1935, 43–53. Ganz einverstanden. Der Schluß verblüffend und effektvoll. Die Logische und Physikalische Äquipollenz sehr gut.

Weil Du ausdrücklich Bemerkungen haben willst: ich unterscheide, wenn ich meine, Carnap sollte etwas nicht sagen, und wenn ich meine, Du müßtest sagen: „Neurath würde sagen …“ Was vielleicht gut wäre, um einerseits die Gemeinschaft, andererseits aber doch auch die Variante zu betonen. Aber gänzlich unwesentlich.

Auf S. 1 vielleicht besser so „These, die besagt, daß man die gesamte Wissenschaft in der Sprache der Physik formulieren kann, das heißt, man müßte jeden Satz der noch nicht physikalisch formulierten Gebiete, also auch …“

Auf S. 2 oben würde Neurath sagen: „Wahrnehmungsätze“, zumal Du ja im folgenden Sätze auf Sätze beziehst und nicht auf ein Korrelat der „Wahrnehmung“.

Wenn „Ich bin traurig“ ein Wahrnehmungssatz ist, müßte wohl „Ich sehe: hier ist ein Schlüssel“ als Wahrnehmungssatz auftreten.

Ich meine von hier bis zum Schluß, daß zwei Betrachtungen zusammen auftreten, die beide in Ordnung sind, aber es wird nicht streng geschieden:

Die beiden Arten I und II sind so wie Hören und Sehen verschieden. Und ich würde als „Neurath“ nicht von „direkt“ und „indirekt“ sprechen. In der physikalischen Vereinheitlichung wird aus Sehen und Hören: Luftwellen I Lichtwellen IX. Und die sind nicht an spezifische Sinne gebunden, sondern „intersensual“. Aber die Wahrnehmung muß „spezifisch“ sein, wenn auch in physikalischer Terminologie.

Es ist nach Neurath so zu formulieren: Wahrnehmungsart I („innere“), Wahrnehmungsart II („äußere“), Verhalten I (Sprechen, Denken usw.), Verhalten II (Miene usw.). So ging ich, wie Du weißt, immer vor. Durch die „Kontrollsätze“ wird das verwischt, weil man die Protokollsätze zu eliminieren meint, während doch bei allen introspektiven Sätzen man nicht um die spezifischen Termini herumkommt, wenn auch in physikalischer Sprache. Vielleicht wärs gut, Du würdest andeuten, daß ich in dieser Richtung anders zu formulieren pflege.

Ich sehe nicht ohne Bedenken auf die antiempiristische Tendenz PoppersPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper, die Protokollsätze beiseitezuschieben. Natürlich braucht man sie nicht immer, aber die Kontrollsätze des Empirismus müssen durch Protokollsätze letzten Endes kontrollierbar sein. Indem Du immer von „Kontrollsätzen“ sprichst und dann von „Wahrnehmungen“, ohne die Protokollsätze zu erwähnen, machst Du ein ganz klein wenig einem sich vorbereitenden Meta🕮 physizismus die Mauer. Ein so herrlicher Töter metaphysischer Drachen Du andererseits bist. Erinnere Dich, wie früh ich bei WeylPWeyl, Hermann, 1885–1955, dt.-am. Mathematiker und Physiker, WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann, SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph die antimetaphysische Walze einlegte. Ich tus jetzt bei PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper wieder. Ich sehe ganz davon ab, wie er für die Philosophen eintritt, die er gegen die Leute, welche er Positivisten nennt, zu Felde führt. (NB. Daß sein BuchBPopper, Karl R.!1935@Logik der Forschung, Wien, 1935 in der SammlungI Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung, Buchreihe kam‚2Popper, Logik der Forschung, in der Reihe Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung. ist durchaus in Ordnung. Weniger, daß Du es inhaltlich stark zu decken scheinst. Es ist doch sogar SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick EthikBSchlick, Moritz!1930@Fragen der Ethik, Wien, 19303Schlick, Fragen der Ethik. in der SammlungI Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung, Buchreihe erschienen. NB. vom NB. – hast Du genauer gelesen, was SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick über WindelbandPWindelband, Wilhelm, 1848–1915, dt. Philosoph, RickertPRickert, Heinrich, 1863–1936, dt. Philosoph und die Geschichtsschreibung sagt, die nichts lernen kann. Mit vollen Segeln kehrt er in den Mutterboden der BLUBO-MetaphysikbKsl. (wo steht das?). zurück, natürlich nur partiell. Aber immerhin. Es ist erschütternd. Ich würde gerne einmal hören, was Du dazu wirklich sagst). Daher ist mir Deine Konzentration auf den Terminus Kontrollsatz bedenklich, nachdem in der logischen Syntax die lieben guten Protokollsätze wieder ein munteres Leben führen durften.

Aus all dem folgt, daß mir der Terminus „direkt“ und „indirekt“cKsl. (wo steht das?). wenig zusagt, auch nicht, was Du S. 11 von „graduell“ und „Zwischenstufen“ sagst. Welcher Berg soll durch die „gradus“ erstiegen werden? Und zwischen welchem „oben“ und „unten“ sind die Stufen? Aber das ist ja nicht weiter tragisch.

Ad S. 9. Die Begriffsverdoppelung würde ich mit mehr Abneigung als Neurath gegen den „ps“ Teil versehen. Erinnere Dich an Heft 1 die Anekdote „Wo ist das Pferd?“ Aber ich lasse Carnapdie Milde der Weisheit und das Toben mir.

Ad S. 11. Carnap sollte schreiben „‚Wirkungen‘ oder ‚Symptome‘ des Zorns“.

Bei „intersubjektiv“ würde Neurath immer betonen, daß das auch bei einer Person schon gilt. Zumal Carnap einmal dazu neigte, „intersubjektiv“ bei Beziehungen zwischen zwei Personen zu verwenden. Daher ist Neurath da kitzlich. Aber Carnap muß es nicht sein.

Also: ganz besonders einverstanden. So viel ich sehe, gehst Du gegen den Standpunkt WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann, SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick usw. jetzt schärfer los als damals in Wien, da wir mit WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann zum Schottenring gingen und ich seine Hinrichtung durch Dich erwartete. Aber verwundert warst Du schon damals, als Du sahst, welche feine metaphysische Blasen im Hexenkessel unserer Wiener GruppeISchlick-Zirkel, Wiener Kreis auftreten …und sie sind sehr stolz darauf. Die Phänomenologen haben ihre Freude daran. Weshalb ja auch KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph von PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper restlos begeistert scheint. Jetzt möchte ich nur wissen, ob wir auch unsere Metaphysik haben, aber sie nicht bemerken.

Laß es Dir gut gehn. Schreibts mal ein bisserl. Wir leben halb mies, halb gut dahin.

Mit besten Grüßen

Dein
ON

Brief, msl., 2 Seiten, RC 029-09-87 (Dsl. ON 220); Briefkopf: msl. 9. II. 35.


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