Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 20. Jänner 1935 Jänner 1935

Lieber Carnap‚

bitte entschuldige mich, daß ich diesmal noch später als gewöhnlich antworte. Ich danke Dir bestens für Deinen letzten Brief.

Ich habe eine recht träge Zeit hinter mir, in der ich nur gerade das Allernotwendigste an Lehr- und Schreibpflichten erfüllte (was ja allerdings angesichts des großen Betriebes hier immerhin etwas ist). Während der Weihnachtsferien habe ich mich absichtlich fast die ganze Zeit nur meiner Familie und meinen Freunden gewidmet, und seit dem Wiederbeginn der Vorlesungen gab es riesig viel zu erledigen, zum Teil recht unerfreuliche Sachen.

Unter solchen Umständen bin ich während der ganzen Zeit gegen meine ursprüngliche Absicht nicht dazu gekommen, den letzten (fünften) Teil meiner ErwiderungB auf LewisPLewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. Philosoph in der endgültigen Form in die Schreibmaschine zu tippen, und ich habe Dir das MSB deswegen noch nicht zugesandt. Vielleicht hätte ich Dir die ersten vier Teile schon schicken sollen, da alles Wesentliche in ihnen bereits enthalten ist. Da aber der 5. Teil – er handelt vom Solipsismus – doch sicher in den nächsten Tagen fertig sein wird, so kann ich wohl ebenso gut noch die kurze Zeit warten. Ich will jetzt wieder etwas fleißiger sein, denn es geht mir eigentlich körperlich gut, wenn ich auch oft müde bin, besonders seit die große Kälte eingesetzt hat.

Was Deine Auffassung von der Verifizierbarkeit betrifft, wie Du sie mir in dem letzten Briefe mitteilst, so bin ich, wie Du aus dem MSB dann wirst schließen können, damit immer noch nicht einverstanden. Ich vermag absolut nicht einzusehen, warum ein Satz nur dann als prinzipiell verifizierbar gelten soll, wenn die Bedingungen für Beobachtungssätze, die aus ihm ableitbar sind, ohne Widerspruch gegen die bekannten Naturgesetze erfüllbar sind. Ich bin überzeugt, daß die Bedingungen sehr viel umfassender, ohne jede Bezugnahme auf Naturgesetze, definiert werden müssen.

Verzeih bitte, daß ich Dir den für die Revue des SynthèseIRevue de Synthése bestimmten AufsatzBSchlick, Moritz!1935@„De la relation entre les notions psychologiques et les notions physiques“, Revue de Synthèse 10, 1935, 5-261M. Schlick: De la Relation entre les Notions Psycholigiques et les Notions Physiques. – In: Revue des Synthèse, 10 (1935). – S. 5 – 26 (dt. Übersetzung „Über die Beziehung zwischen den psychologischen und den physikalischen Begriffen“. – In: Gesammelte Aufsätze 1926 – 1936. – Wien, 1938). noch nicht geschickt habe. Der Grund liegt in folgendem. Die Kopie des MSBSchlick, Moritz!1935@„De la relation entre les notions psychologiques et les notions physiques“, Revue de Synthèse 10, 1935, 5-26 hatte ich vor einiger Zeit WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann gegeben, und er machte mich dann auf einige Stellen aufmerksam, die nach seiner Meinung für die Leser zu schwer verständlich wären. Ich habe mich daraufhin entschlossen, an diesen Stellen noch Erläuterungen einzuschieben, nur bin ich bisher noch nicht dazu gekommen. Es wird jetzt aber höchste Zeit, denn die Übersetzung wird wohl bald fertig sein. Sobald die Ergänzungen nach Paris abgeschickt sind, werde ich Dir meine korrigierte Kopie des MSBSchlick, Moritz!1935@„De la relation entre les notions psychologiques et les notions physiques“, Revue de Synthèse 10, 1935, 5-26 senden (mit der Bitte um Rückgabe).

Unsere Donnerstag-AbendeISchlick-Zirkel, Wiener Kreis finden seit diesem Semester wieder statt. Daß HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn nicht mehr dabei ist, empfinden wir natürlich ganz außerordentlich und mit dem größten Schmerz. GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker wird über Deine Abhandlung über die Antinomien2R. Carnap: Die AntinomienB1934@„Die Antinomien und die Unvollständigkeit der Mathematik“, Monatshefte für Mathematik 41 (1), 1934, 263-284 und die Unvollständigkeit der Mathematik. – In: Monatshefte für Mathematik und Physik, 41 (1934). – S. 263 – 284. referieren, für deren Zusendung ich Dir übrigens noch besonders herzlich danke. Sie ist sehr schön.

Über Neurath’sPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath AufsatzBNeurath, Otto!1934@„Radikaler Physikalismus und ‚wirkliche Welt‘ “, Erkenntnis 4, 1934, 346-362 in der „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift3O. Neurath: Radikaler Physikalismus und „wirkliche Welt“. – In: Erkenntnis, 4 (1934). – S. 346 – 362. habe ich mich, wie Du Dir denken kannst, ein wenig gewundert. Mir scheint, daß er sich diesmal durch sein Temperament zu recht törichten Behauptungen hat hinreißen lassen. Seine Ausführungen haben in mehr als einer Beziehung einen schlechten Eindruck gemacht, hier ist NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger der einzige, der ihn noch ernst nimmt. Ich werde natürlich nicht direkt darauf antworten, sondern höchstens vielleicht gelegentlich einmal etwas schreiben, was man als Antwort auffassen kann, wenn man will. 🕮

Von Miss StebbingPStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin erhielt ich vor einer Woche einen sehr netten Brief, in dem sie über die Diskussionen berichtet, die kürzlich in ihrem Hause im Beisein HempelsPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel stattfanden. Es ist zum mindesten Rechtschreibung gut, daß in London solch Interesse für die Dinge herrscht.

Daß Ihr in England eine so genuß- und erfolgreiche Zeit gehabt ha[b]t, freut mich wirklich sehr. Das ist überhaupt ein Land, wo es sich schon leben ließe. Es ist möglich, daß RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell im März nach Wien kommt, aber vorläufig noch unbestimmt. Ich selbst werde am 20. März wieder abdampfen und freue mich bereits unendlich auf die sechs Wochen Sonne, Meer, Ruhe und ungestörte Arbeit. So lange diese Reisen noch möglich sind, bin ich in Wien sehr glücklich. Meine KinderPSchlick, Albert, 1909–1999, Elektroingenieur, Sohn von Moritz SchlickPSchlick, Barbara, 1914–1988, verh. van de Velde, Tochter von Moritz Schlick sind zusammen mit einem jungen Franzosen, den wir als Gast im Hause hatten, vierzehn Tage zum Skilaufen im Hochgebirge gewesen; für mich sind die Zeiten des Sportes leider vorüber.

Ich habe vergessen zu sagen, daß ich mit dem, was Du in Deiner Skizze über den rechten und linken Flügel des Positivismus sagtest, hauptsächlich deswegen nicht ganz zufrieden war, weil ich glaube, wir sollten derlei dem NeurathschenPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath Jargon entnommenen Ausdrucksweisen vermeiden, um uns nicht lächerlich zu machen; außerdem kann man nicht gut von einem „Festhalten“ an WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph reden, da er ja selbst seine Meinungen beträchtlich geändert hat. Und ob man für seine frühere Meinung den Ausdruck „Metaphysik“ gebrauchen kann, scheint mir auch fraglich.

Also ich schicke Dir die beiden ManuskripteBB, sobald sie ganz fertig sind, und bitte nur, sie nach einiger Zeit zurückzusenden.

Viele herzliche Wünsche für Dich und Deine FrauPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap!

Mit besten Grüßen

Dein
Schlick

Brief, msl., 2 Seiten, RC 029-27-07 (Dsl. MS 95/Carn-54); Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. Moritz Schlick  /  Wien IV.  /  Prinz-Eugen-Str. 68, msl. 20. Januar 1935.


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