\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 18.~Januar 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, Den Haag, 18. Januar 1935}{Januar 1935}\labelcn{1935-01-18-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{\cutcn{Eben teilt mir Neider\IN{\neider} mit, daß er unter den bisherigen günstigen Finanzierungsbedingungen die Arbeit von Frank\IW{\frankende}\IN{\frankphilipp} und von mir\IW{\neurathwirtschaftswiss} als Heft 4 und 5\II{\einheitswissenschaftschriftenreihe} bringen will.\fnE{\labelcn{1935-01-18-Neurath-an-Carnap-Reihe}1935 erschienen in der Reihe \textit{Einheitswissenschaft} sowohl Neurath, \textit{Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung?}, als auch Frank, \textit{Das Ende der mechanistischen Physik}.} Das ist sehr erfreulich. Ich habe vor, diesmal etwas ganz Durchpräzisiertes zu veröffentlichen, entsprechend der beschaulichen Stimmung, die man hier hat -- trotz aller Miesigkeiten. Nun regt Neider\IN{\neider} etwas an, was ich selbst schon erwogen habe. Es ist ein weiterer Mitherausgeber empfehlenswert. Ich würde am ehesten an J\o{}rgensen\IN{\joergensen} denken. Wenn Du kein Bedenken hast, lade ich ihn ein. Ich hoffe, er wird auch einmal ein historisches Heft schreiben, das eine gute Einführung bringt. Auch von Rougier\IN{\rougier} u.\,a. will ich etwas erbitten.} Das Buch\IW{\popperldf} von Popper\IN{\popper} habe ich in erster Lesung hinter mir. So zweifellos begabt er ist, so meine ich, sind viele seiner Formulierungen nicht fundiert genug, um dies Maß an Ironie und Kritik zu rechtfertigen. Daß er viele Dinge ungenau liest, über die er sich äußert, ist eine andere Sache. Am meisten berührt mich unerfreulich die merkwürdige Sonderstellung, die er der Psychologie gibt. Wenn man sie behavioristisch nimmt, ist ja ,,psychologistisch`` kein Schimpfwort mehr und, ob man das Behavior in einem Satz drin hat oder nicht, eine triviale Zweckmäßigkeitsfrage. Mich würde ungemein interessieren zu hören, was Du drüber denkst. Hempel\IN{\hempel} hat in Brüssel sehr nett und wirklich eindringlich unsere Denkposition gegen Schlick\IN{\schlick} vor einem erfreulichen Kreise dargestellt (mit Errera\fnA{\original{Erera}}\IN{\erera}, dem Mathematiker) bei Oppenheims\IN{\oppenheimfrau}\IN{\oppenheim}. Aber da er Rötel bekam, habe ich nur Knappes über London gehört, dafür schrieb mir Miss Stebbing\IN{\stebbing} ausführlich. Es scheint die Tatsache, daß ich ihr einen philosophischen Brief auf English schrieb, sie irgendwie angeregt zu haben. Persönlich soll sie sehr schweigsam sein. Während sie sehr nett schrieb, wie alles ,,puzzled`` war über dies und das. Und ganz zart deutet sie an, daß wir das Treiben ihres Kreises wohl für Metaphysik halten dürften. Jetzt muß ich mein Englisch aufzäumen und einen Ritt ins romantische Land unternehmen. Ich hätte der Stebbing\IN{\stebbing} gar nicht zugetraut, daß sie mich wesentlich ermutigt, indem sie schreibt: ,,I like your English \ldots\ It is quite easy to understand, even when it is not idiomatic.``\fnEE{Susan L. Stebbing an Otto Neurath, 9.~Januar 1935, ON 303.} Leider bin ich im Französischen so ganz elend dran und dort gibts kein ,,Schwimmen``. Schlechtes Französisch ist einfach ein Jammer. Aber ich muß es jetzt wohl lernen. Englisch geht zur Not. Bis ich so weit bin, den Brief zu beantworten, schreibe ich Dir Näheres. \neueseite Über die Schlick-Sekte\II{\schlickzirkel}\IN{\schlick} dringen nur dunkle Berichte an mein Ohr. Der Schwur, über alles zu schweigen, was aus den heiligen Büchern vorgeflüstert wird, bindet eben alle -- es sei denn, daß einer das Heiligste\fnA{\original{Heilgste}} ,,zitiert`` mit Psalmnummer und Vers. Oh vanitas vanitatum.\fnE{,,Eitelkeit der Eitelkeiten``.} Ich erzählte Euch ja von meinem Freund mit dem kategorischen Imperativ, der mir erläuterte, warum er sittlich verpflichtet war, mit einer anderen Frau als seiner eigenen neue Beziehungen zu beginnen \ldots{} worauf ich meinte, meine nichtkantianischen Freunde könnten das auch ohne kategorischen Imperativ. Weißt Du, erst sagen, es sei gleich, woher ein Gedanke komme, und dann auf die Prioritätenbörse gehn \ldots,\fnE{Gemeint ist einerseits das Vorwort in Wittgenstein, \textit{Tractatus logico-philosophicus}, andererseits die Plagiatsvorwürfe Wittgensteins gegen Carnap, vgl. Brief Nr.~\refcn{1932-10-01-Neurath-an-Carnap}, Anm.~\refcn{1932-10-01-Neurath-an-Carnap-Plagiat}.} das treff ich auch ohne adeligen Sinn auf Grund meiner derb-weltlichen Gesamthaltung. Ich warte jetzt nur, wie die Publikationsfrage Waism\editor{ann}\IN{\waismann}-Wittg\editor{enstein}\IN{\wittgenstein}\IW{\waismannbuch} gelöst wird. Aber da die Welt ja auch sonst grauslich genug ist, kommts auf so ne Kleinigkeit mehr oder minder nicht an. \cutcn{Sehr erfreulich, daß nun Rougier\IN{\rougier} die 10.000 frcs für den Kongreß\II{\pariserkongress} zugesagt kriegte. Ich begann schon Fühler in andere Städte auszustrecken, hoffend, daß wie um Homer\IN{\homer} sich sieben streiten würden um ihn. Bitte schreib mir umgehend, daß Du mit dem einverstanden bist, was ich an Reichenbach\IN{\reichenbach} schrieb, ebenso möchte ichs von Frank\IN{\frankphilipp} hören.\fnE{Siehe dazu unten, Brief Nr.~\refcn{1935-01-23-Carnap-an-Neurath}.} Es sind ja diplomatische Eiertänze, die wir aufführen müssen, Rougier\IN{\rougier} verhält sich übrigens sehr nett, wenn ich auch nicht immer weiß, ob er selbst alles aufs beste ordnet. Die Wut von Boll\IN{\boll} hätte er uns ersparen können, denn Janet\IN{\janet} ist nicht wesentlich für uns.\fnE{Siehe dazu oben, Brief Nr.~\refcn{1934-10-06-Neurath-an-Carnap} und dort Anm.~\refcn{1934-10-06-Neurath-an-Carnap-Boll}.} Na ja. Aber man muß von den Menschen nicht mehr verlangen, als sie geben können. Und von einem Rosenstrauch können wir nicht Kastanien erhoffen.} Grüß mir Inen\IN{\ina}. Olga\IN{\neuratholga} freute sich ungemein über den Brief. Es wäre nett, wenn der Kontakt belebt weiterliefe -- bis das Gas kommt\fnEE{Diese Ausdrucksweise ist wohl vom Einsatz von Giftgas im Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs abgeleitet.}. Die Fabriken arbeiten mit Hochdruck \ldots\ herzlichste Grüße Euch zwei } \grussformel{Dein\\Otto Neurath}\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/823558}{RC 029-09-96}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Herrn Prof. R.~Carnap\,/\,Prag} und \original{18.~Jan. 1935}.}