Otto Neurath an Hans Reichenbach, Kopie an Carnap, 17. Januar 1935 Januar 1935

RC 029-09-97; Typoskript

DRINGEND und UMGEHEND ZUSTIMMUNG ERBETEN.

Herrn Prof. Hans Reichenbach

ISTANBUL

17.Jan.1935

Lieber Reichenbach!

Dieser Brief geht im Durchschlag an die FUENF, damit wir keine Zeit verlieren. Eben nämlich, als ich den Brief an Sie überdenke, klingelt es und unser Freund Rougier teilt par avion mit, daß das Unterrichtsministerium 10.000 frcs zugesagt hat, jetzt wartet er noch, was der “QUAI“ höchstselbst zu sagen hat. Aber wir werden jetzt intensiv loserarbeiten.

Rougier schlägt vor und es werden die FUENF um rasche Entscheidung gebeten: Henri BONNET, Direktor des intern. Instituts für intellekt. Zusammenarbeit in Paris. WICHTIG, weil Verbindungen für Kongreß schaffend. F. GONSETH Prof. Polytechn. Zürich. Mir unbekannt. Hoffe, daß die FUENF Stellung nehmen kann. Schrieb über Grundlagen der Mathematik, arbeitet jetzt über Mathematik und Wirklichkeit. Darüber was in der Scientia. Es ist sonst niemand aus der Schweiz.

Ich dachte auch an Hans Halban. Wer meint was darüber?

Wir werden nunmehr Mises einladen.

Es wurde von Frank: Bohr angeregt, bitte sofort um Stellungnahme.

Leider haben unsere FUENF nur mäßig an unseren Sorgen teilgenommen, dafür haben Rougier und ich in einem ebenso ausgedehnten wie anregenden Briefwechsel die wirren Ereignisse zu meistern gesucht. Ich freue mich, daß Sie anfragen, meine Antwort soll auch die FUENF informieren und deren Zustimmung erbitten.

Die Aussendungen zum großen Komitee, und sonstige Aussendungen und Eingaben mußten vielerlei Bedingungen genügen und mancherlei Klippen umschiffen. Z.B. legte Rougier überzeugend dar, daß man in Paris PHILOSOPHIE SCIENTIFIQUE betonen müsse, während andererseits Gelder winken, wenn wir betonen, expressis verbis, daß wir WISSENSCHAFT betreiben und nicht Philosophie. Usw. Usw.

Aber da wir ein reich assortiertes Lager haben und viele Vorarbeiten gemacht hatten, klappte alles, Rougier verfaßte auf Französisch, Morris auf English ein Rundschreiben, das den verschiedensten Ansprüchen genüge leistet – ich habe ja über einzelne Phasen bereits den FUENF berichtet. Es wird nur so aufgezogen: (und es ist gut, wenn wir alle uns gleichartig verhalten, wenn wir von den internationalen Kongressen reden.)

Der Name “Kongresse für Einheit der Wissenschaft“, der ja durch die Prager Einladungen allen bekannt ist, wird nicht sehr betont. Das Komitee wird nur immer diesen Namen verwenden. EINHEIT DER WISSENSCHAFT. UNITY OF SCIENCE, UNITE DE LA SCIENCE, ist in allen drei Sprachen nett und ohne Bedenken. Hingegen empfiehlt es sich nicht von “EINHEITSWISSENSCHAFT“ zu sprechen, dieser Terminus, vor allem als: “EINHEITSWISSENSCHAFT AUF PHYSIKALISTISCHER BASIS“ bezeichnet eine bestimmteAnschauungsweise, die einzelne von uns vertreten. Schon darüber, wie das auf Englisch heißt, kann man streiten, ob z. B. UNIFIED SCIENCE oder wie.

Nun habe ich mit Rougier in Hinblick auf vielerlei Probleme – z. B. auch Scientiagruppe (Enriques usw.) – besprochen, daß wir uns möglichst vorsichtig in der Umgrenzung ausdrücken werden, damit nicht auf einmal eine Gruppe oder Zeitschrift als solche aufscheint, deren Einzelmitarbeiter wir zu wenig kennen. Der Enriquesbrief, der uns wie mancher andere einiges Kopfzerbrechen verursachte, ist ja an die FUENF geschickt worden. Weiter wurde in beinahe schon diplomatischer Weise für die Zukunft vorgesorgt. Wir proponieren, daß eine Sektion für PHILOSOPHIE SCIENTIFIQUE immer bestehen soll, auch wenn ein anderes Generalthema sein wird.

Dies Komitee für die INTERNATIONALEN KONGRESSE FUER EINHEIT DER WISSENSCHAFT wird sich bemühen, jeden Kongreß mit einem zentralen Thema einzuberufen. Daneben können natürlich auch andere Themen behandelt werden, aber die Gemeinsamkeit des Themas ermöglicht eine bessere Komposition der Kongresse. Der erste behandelt die Wissenschaftliche Weltauffassung als solche, die PHILOSOPHIE SCIENTIFIQUE und der Kongreß ist einer mit diesem Titel. Philosophie Scientifique hat ja eine gleitende Bedeutung, die wissenschaftliche Weltauffassung meint, aber auch Wissenschaftslehre usw. Denn “Philosophy“ und “Philosophie“ sind ja nicht, wie im Deutschen Termini, die Satzgesamtheiten, metaphysische Systeme usw. andeuten, sondern sehr allgemein “Anschauungsweise“, ja hinabgleitend bis “Meinung“ die man von etwas hat. Der Terminus “Philosophie“ ist von uns im ganzen als Bestandteil der deutschen Sprache nicht sehr beliebt. Frank pflegt die Zusammensetzung “Schulphilosophie“ zu bevorzugen, mit ironischer Nebenbedeutung, ich selbst verwende Philosophie meist gleich Metaphysik und zwar in kompakter Form. Carnap verwendet, wie es scheint das Wort mehr im Englischen, als im Deutschen. Jedenfalls würden wir wohl vermeiden zu sagen, daß der PARISER KONGRESS das Thema “Wissenschaftliche Philosophie“ behandelt, sondern “Wissenschaftliche Weltauffassung“, was ja auch der Titel der Schlick-Franksammlung ist. Von einer wissenschaftlichen Weltauffassung erwartet man nicht, daß sie eigene Sätze hat, sie gibt ein “Behavior“ an. Hingegen deutet “Wissenschaftliche Philosophie“ auf eine Satzgesamtheit hin.

Zu den Themen auf den ersten Kongreß gehört auch die Wissenschaftslogik. Sie umfaßt nicht das Kongreßthema, denn da soll ja, besonders über Anregung von Rougier auch Wissenschaftssoziologie besprochen werden und manches, was in der Richtung enzyklopädischer Zusammenfassung liegt. Ein Treffpunkt von Gelehrten, die unter einander Verbindung suchen. In diesem Sinne wurde ja auch ein Vortrag “Einheit der Wissenschaft“ in Prag angesetzt, aber keiner über “Wissenschaftliche Weltauffassung“ – das ist das Thema, das der Kongreß im ganzen behandelt. Die “Einheit der Wissenschaft“ läuft durch. Es scheint, daß sich ungezwungen INDUKTION, WAHRSCHEINLICHKEIT, usw. als Themen weiterer Kongresse ergeben. Nach Paris vielleicht Warschau usw. Je mehr es gelingt Vertreter verschiedener Wissenschaften für solche gemeinsame Themen zu interessieren und die Verbindung herzustellen, so daß enzyklopädische Arbeit gefördert wird, umso besser.

Jetzt scheint Paris 1935 sicher zu sein. Ich wäre aber auf alle Fälle für 1935, da man ja nicht weiß, was alles passieren kann. Übrigens ist 1936 für Paris ungünstig, weil 1937 der intern.Phil.Kongreß dort ist und zwei Jahre nacheinander die Menschen ungern nach Paris gehn. Vielleicht kann man 1937 wieder wie diesmal vordem intern.Kongreß “unsere“ Tagung haben, da ja viele die Descartesfeier mitmachen werden, was übrigens uns viel Anregung gehen wird, da wir ja irgendwie zu Descartes und Leibniz stehn und das Kantische Zwischenspiel überspringen.

Ich hoffe, Sie freuen sich auch, daß wir um alle Klippen geschifft sind und jetzt dem freien Ozean zustreben. Lewis hat übrigens schon zugesagt Frank bemüht sich um Langevin. Bridgman hat auch zugesagt.

Morris ist sehr dafür, daß wir “Scientific Empiricism“ propagieren, was ich gern tue – auch “logisierender Empirismus“. Ich verwende, auch Frank schon, nicht ungern, das gegen uns verwendete Scheitwort “Scientismus“.

Aufs Urtürkische bin ich sehr neugierig. Jetzt beginnt der Umbruch von Heft. Es war eine wirkliche Mühe. Gute Grüße und auf bald Wiederschreiben

Ihr


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