\brief[Ina Carnap an Olga Neurath, Prag, 13.~Januar 1935]% {Ina und Rudolf Carnap an Olga Neurath, 13. Januar 1935}{Januar 1935}\labelcn{1935-01-13-Carnap-Ina-an-Neurath-Hahn} \anrede{Liebe Frau Neurath,} \haupttext{Sie haben uns mit Ihrem Brief wieder einmal richtig beschämt. Ich glaube, wir haben Ihnen nicht einmal den ,,bread and butter`` Brief geschrieben, den Leute mit guten Manieren schreiben, wenn sie irgendwo zu Gast waren! Die Londoner Sensationstage scheinen uns schon wieder sehr weit hinter uns zu liegen. Im Oktober und November war der kleine Dr. Nagel\IN{\nagel} aus New York hier in Prag, der war oft bei uns, und es war sehr nett, daß wir in vielen Dingen, so z.\,B. in politischen, so gut übereinstimmten. Und der Carnap\incarnap{} hat ihm natürlich Syntax erklärt. Im Dezember war ein Scholzschüler\IN{\scholzheinrich}, Dr. Bachmann\IN{\bachmannfriedrich}, hier, der mit Carnaps\incarnap{} Hilfe eine Arbeit über Minimalaxiome schreiben will.\fnSE{Carnap/Bachmann, ,,Über Extremalaxiome``.} Ansonsten geht bei uns alles im normalen Geleise, der Carnap\incarnap{} hält nicht sehr gut besuchte Vorlesungen und sitzt sonst am Schreibtisch. Eben sieht er den ersten Teil der englischen Übersetzung der Syntax\IC{\logischesyntaxenglisch} durch.\fnEE{Erschienen 1937 als Carnap, \textit{The Logical Syntax of Language}.} Vor Weihnachten hat er die aus dem ursprünglichen Ms der Syntax herausgeschnittenen Kapitel zu zwei Aufsätzen für die Monatshefte\II{\monatshefte} umgeformt: ,,Die Antinomien und die Unvollständigkeit der Mathematik``\IC{\msantinomien} und ,,Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen Mathematik``\IC{\gueltigkeitskriterium}.\fnE{Vgl. dazu auch Carnap, \textit{Logische Syntax der Sprache}, Vorwort.} Sonst ist seit der Englandreise nichts Größeres entstanden. Ich bedaure sehr, daß ich so weit weg bin und Ihnen nicht die Syntax\IC{\logischesyntax} vorlesen kann! Ich würde es so gerne tun! Dr.~Nagel\IN{\nagel} schrieb uns jetzt aus Wien seinen Eindruck über einen Schlickzirkel\II{\schlickzirkel}:\fnE{Nagel an Carnap, 5.~Januar 1935, (RC 29-05-16).} Mit Ausnahme Kaufmanns\IN{\kaufmannfelix} und Mengers\IN{\menger} habe ihm das Ganze den Eindruck einer Kongregation gemacht, deren Mitglieder im Chor mit Schlick\IN{\schlick} singen. Schlick\IN{\schlick} will demnächst aus den unveröffentlichten Manuskripten Wittgensteins\IN{\wittgenstein} vorlesen; jeder mußte sich verpflichten, falls er auf der Basis dessen, was er hören wird, etwas publizieren sollte, genaue Angaben darüber zu machen. Daß Menger\IN{\menger} geheiratet hat, wissen Sie wohl schon; eine Mathematikstudentin namens Axamit\IN{\axamit}; weiß nicht, ob Sie sie kennen. Weihnachten verbrachten wir bei Franks\IN{\frankphilippfrau}\IN{\frankphilipp}, er geht schon viel besser, beide waren guter Stimmung. Feigl\IN{\feigl} schrieb nach einjähriger Pause eine Karte (seinen Sohn Eric\IN{\feiglericotto} darstellend, der auf dem Foto schon erstaunlich menschlich aussieht für 1\,\nicefrac{1}{2} Jahre), die besagt, daß er sehr intensiv in einer Richtung arbeite (über die Unentbehrlichkeit von ,,metaphorical meanings``), die der Wittgensteinschen\IN{\wittgenstein} nahe ist. Er glaube, daß Carnaps\incarnap{} philos\ekl{ophische} Anwendung der Syntax die Probleme gar zu glatt aus dem Wege räumt. Wir sind sehr froh darüber, daß unser Aufenthalt dort den Kontakt zwischen Ihnen und Mannoury\IN{\mannoury} bewirkt hat. Über das neue Popperbuch\IN{\popper}\IW{\popperldf} sind die Ansichten geteilt.\fnEE{Popper, \textit{Logik der Forschung}.} Vielleicht kann man sagen: Physiker (Frank\IN{\frankphilipp}, Reichenbach\IN{\reichenbach}) schätzen es weniger, Philosophen (Nagel\IN{\nagel}, Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} etc.) schätzen es mehr. Von der Mengerschen\IN{\menger} Ethik\IW{\mengerbuch} war der Carnap\incarnap{} nicht sehr begeistert;\fnE{Menger, \textit{Moral, Wille, Weltgestaltung}.} er sagte, die mathematischen Teile wären natürlich sehr gut, aber im ganzen hat der Inhalt nichts mit dem Titel zu tun, und außerdem ,,was soll mich das``? Menger\IN{\menger} hinwiederum ist auf Carnap\incarnap{} nicht glänzend zu sprechen; wir hörten in London, daß er empört gewesen sei, daß der Verlag Springer\II{\springerverlag} dem Carnap\incarnap{} Übersetzungsrecht ein Jahr nach Erscheinen zugebilligt hat, während er bis dahin glaubte, daß das nur ein Privileg für ihn sei. Ferner habe er mit der Gräfin Zeppelin\IN{\zeppelin}, die jetzt die Syntax\IC{\logischesyntaxenglisch} übersetzt, wegen Übersetzung seiner Ethik unterhandelt, aber ihr zur Bedingung gestellt, daß sie dann die Syntax nicht übersetze. Ich denk mir, der Gute spinnt ein bissel und ich beneide das Fräulein Axamit\IN{\axamit} nicht um diesen Mann, aber ich habe eine böse Zunge und ein böses Herz. \neueseite Auf den Hempelbericht\IN{\hempel}\IW{\hempeltheoryoftruth} über London\II{\londonforum} sind wir auch sehr gespannt. Eigentlich ist mein Gemüt noch nicht vollständig darüber beruhigt, wie die Uhr wieder in Gang kam, die ich damals zu heftig bremste. Maue\IN{\maue} schrieb einen sehr zufriedenen und besonders über das Gittli\IN{\birgit} strahlenden Brief; %\fnEE{Die 1927 geborene Gittli (Birgit) Gramm war die gemeinsame Tochter von Carnap und Maue (Dorothea) Gramm.} anscheinend gehts ihr gut. Ich schreibe ja heute an einem bedeutungsvollen Tag;\fnEE{\labelcn{1935-01-13-Carnap-Ina-an-Neurath-Hahn-Saar}Bei der Volksabstimmung am 13.~Januar 1935 stimmte das Saargebiet mit über 90\,\%\ für die Wiedervereinigung mit Deutschland und damit gegen den Status quo, den Fortbestand der französischen Mandatsverwaltung.} aber wir denken, daß die status quo Aussichten sehr klein sind. Gestern war im Prager Tagblatt\II{\tagblattprag} ein Artikel, in dem der Ausgang der Abstimmung als sehr bedeutungsvoll hingestellt wurde. Ein Ergebnis von weniger als 75 Prozent prodeutsch würde ihm zufolge schon einen sichern Sturz des Hitlerismus bedeuten. Das scheint uns aber doch bezweifelbar. Auf den Hügeln vor unsern Fenstern toben Hunderte von Skiläufern und Rodelleuten, obwohl es höchstens 10~cm Schnee gibt. Vor einiger Zeit trafen wir Gödels Bruder\IN{\goedelbruder} hier, der berichtete, daß Gödel\IN{\goedel} wieder für ein Semester nach Princeton\II{\princeton} eingeladen sei, daß er aber von drüben mit Kiefereiterung zurückkam (dieselbe Sache, mit der Schlick\IN{\schlick} mal zurückkam und die drüben sehr verbreitet sein soll) und dadurch sehr heruntergekommen und entschlußunfähig sei. Wahrscheinlich wird er im Herbst fahren. Auf Neuraths\inneurath{} Anfrage: Frank\IN{\frankphilipp} ist einverstanden, wenn \nneurath{}\inneurath{} seine Schuld an Frank\IN{\frankphilipp} auf unser Londoner Konto zahlt und wir es mit ihm verrechnen.\fnA{Ksl. am Seitenrand: \original{gegenwärtiger Kurs: 1 £ = 118 Kč}.} Carnap\incarnap{} weiß nicht, ob Schlick\IN{\schlick} vor hat, etwas auf \nneurath{}\inneurath{} zu entgegnen. Schlick\IN{\schlick} hat auch noch nicht seinen Aufsatz über Lewis\IW{\schlickmeaning} geschickt, an den Carnap\incarnap{}\IC{\lewisaufsatz} in seinem anknüpfen will. Nur Nagel\IN{\nagel} schrieb,\fnE{Ernest Nagel an Rudolf Carnap, 5.~Januar 1935, RC 29-05-16.} daß Schlick\IN{\schlick} im Zirkel\II{\schlickzirkel} über die Notizen, die Carnap\incarnap{} für seine Entgegnung vorbereitet und Schl\ekl{ick}\IN{\schlick} geschickt hat, referierte, und dabei sagte, Carnap\incarnap{} habe sich getroffen gefühlt durch Lewis'\IN{\lewis} Kritik der Positivisten. Schlick\IN{\schlick} sagte, er selber habe nie einen der Standpunkte vertreten, die Carnap\incarnap{} für nötig befunden habe abzulehnen. Und Nagel\IN{\nagel} fügt hinzu, daß, wenn das der Fall ist, er Schlicks\IN{\schlick} Stellung keineswegs begreifen könne, da er sich genau daran erinnere, daß Schlick\IN{\schlick} das vertreten habe, was Nagel\IN{\nagel} eine irrtümliche Form von logischem Atomismus zu sein scheine. Nun ist mein Berichtstoff aber wirklich erschöpft. Ich grüße Sie herzlich und wir beide wünschen Ihnen allen ein besseres Jahr 1935! Ihre guten Wünsche haben wir uns mit Wohlbehagen zu Gemüte geführt, wenn auch die Chancen für die fette Professur nicht so stehen, daß wir uns die Verwirklichung für dieses Jahr erwarten. Bitte grüßen Sie auch Mieze\IN{\reidemeistermarie} von uns! Mit guten Grüßen und herzlichem Gedenken,} \grussformel{Ihre\\Ina\\und C.} \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828771}{RC 029-20-01}; Briefkopf: msl. \original{Prag, den 13.~Januar 1935}; Signatur teils msl. (\original{Ina}), teils ksl. (\original{und C.}); die (fast) durchgängige Kleinschreibung wurde nicht übernommen.}