\brief{Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 27. Dezember 1934}{Dezember 1934} %Prag, den 27. Dez. 1934. \anrede{Lieber Schlick!} \haupttext{Besten Dank für Deinen Brief vom 1. Nov[ember]. In England haben wir einen sehr schönen und interessanten Monat verlebt. Allerhand interessante Menschen kennen gelernt. Stebbing\IN{\stebbing} sehr anziehend durch ihren zuverlässigen Charakter, im wiss[enschaftlichen] Denken nicht originell, aber verständnisvoll und sehr interessiert. Ogden\IN{\ogden} manchmal ein komischer Kauz, aber er hat auch ganz witzige, originelle Ideen. Der Biologe Woodger\IN{\woodger} (vielleicht hast Du auch mal früher Sonderdrucke von ihm bekommen) und seine Frau\IN{\woodgerfrau} sind sehr liebe Menschen. Wir waren mehrmals einige Tage bei ihnen auf dem Lande und haben uns da sehr wohlgefühlt. Frau W[oodger]\IN{\woodgerfrau} brachte uns mal im Auto zu Russel[l]\IN{\russell} nach Harting, in sein einsames Haus. Ich war sehr erfreut, R[ussell]\IN{\russell} endlich mal persönlich kennen zu lernen, was ich mir seit vielen Jahren gewünscht hatte. Er war sehr lebhaft, seine 62 Jahre merkt man ihm nicht an; eine sehr eindrucksvolle Persönlichkeit. Ich freue mich sehr, daß Du mir einen Durchschlag Deiner Erwiderung\IW{} auf Lewis\IN{\lewis} \IW{} schicken willst. Vielleicht komme ich auch bald dazu, meine zu schreiben. Falls Du noch einen weiteren Durchschlag hast, würde vermutlich Dr. Nage\IN{\nagel}l sehr interessiert sein, ihn zu lesen; er ist in Wien, ich weiß nicht, wo er wohnt, seine Adr. ist: c/o American Express Co., Wien I., Kärtner Ring 14. -- Meine frühere Skizze werde ich jetzt wahrsch[einlich] der Erwiderung nicht mehr zugrunde legen. Das über die beiden Flügel des Wiener Kreises\II{\schlickzirkel} werde ich wohl weglassen. (Du findest meine Darstellung der Auffassungen des rechten Flügels nicht zutreffend; das verstehe ich nicht recht; ich habe doch fast nichts über ihn gesagt; nur, daß er unsre Auffassung ablehne, daß Sätze niemals vollständig verifizierbar seien; daß Du dies tatsächlich ablehnst, hast Du doch in dem Aufsatz über das Fund[ament] d[er] Erk[enntnis]\IW{\schlickfundament} sehr deutlich gesagt, nämlich daß es auch Sätze gebe, die wohl vollst[ändig] verifizierbar sind.) -- Das mit der log[ischen] Möglichkeit hast Du mißverstanden, wohl infolge der kurzen Formulierung. Der letzte Absatz meint: ein Satz ist grundsätzl[ich] verifizierbar, wenn aus ihm Bedingungssätze für Beobachtungssätze ableitbar sind (z.\,B. aus dem Satz ,,Auf der Rückseite des Mondes ist ein Krater von der und der Gestalt``; ableitbar ist ,,Wenn jemand dorthin reist, sieht er das und das``); ich habe dann gefordert, daß die \uline{Bedingungen} (,,jemand fährt auf die Rückseite des Mondes``) nicht im Widerspruch zu den bekannten Naturgesetzen stehen; das Implikat, der bedingte Beobachtungssatz, mag dagegen sein wie er will; von ihm wird nicht Verträglichkeit mit den Naturgesetzen gefordert, denn sonst könnte man allerdings (wie Du richtig bemerkst) kein Naturgesetz widerlegen. Kürzlich habe ich das Buch\IW{\popperldf} von Popper\IN{\popper} bekommen. Ich stimme ganz mit Dir überein: im Inhalt gut, aber überflüssige Abweisung der Richtungen, zu denen er selbst gehört (Empirismus, Positivismus, Konventionalismus, diese Bezeichnungen im Sinne unsrer Auffassungen verstanden). \neueseite{} Abel Rey\IN{\abelrey} schreibt mir, daß er ein MS von Dir über psychol. und physikal. Begriffe\IW{} bekommen hat. Da ich ebenfalls im Januar einen Beitrag zu seiner Enqu\^{e}te schreiben will, und zwar auch über ein verwandtes Thema, wäre mir Zusendung eines Durchschlags Deines deutschen Originals lieb, falls das möglich ist. R[ey]\IN{\abelrey} will mir später Deinen Aufsatz in franz. Übersetzung\IW{} schicken, aber das wird vielleicht zu spät. Ich freue mich sehr, daß Dir der Italienaufenthalt im Okt. so gut getan hat. -- Wir fahren vielleicht jetzt einige Tage ins Riesengebirge. Es hängt vom Wetter ab. Wenn nicht, dann wahrsch[einlich] in den Februarferien. Aber vielleicht werden die wegen des Studentenstreiks im Nov. gekürzt oder gestrichen. Mit herzlichen Grüßen und den besten Wünschen für das neue Jahr,} \grussformel{Dein\\ R. Carnap} \briefanhang{Wie stehts mit Waismanns Buch?} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870677}{MS 95/Carn-43 (Dsl. RC 029-28-03)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Prag XVII. \,/\, N. Motol, Pod Homolkou 146}, msl. \original{Prag, den 27.\,Dez. 1934}.}