Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 27. Dezember 1934 Dezember 1934

Lieber Schlick!

Besten Dank für Deinen Brief vom 1. Nov[ember].

In England haben wir einen sehr schönen und interessanten Monat verlebt. Allerhand interessante Menschen kennen gelernt. StebbingPStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin sehr anziehend durch ihren zuverlässigen Charakter, im wiss[enschaftlichen] Denken nicht originell, aber verständnisvoll und sehr interessiert. OgdenPOgden, Charles Kay, 1889–1957, brit. Linguist und Philosoph manchmal ein komischer Kauz, aber er hat auch ganz witzige, originelle Ideen. Der Biologe WoodgerPWoodger, Joseph Henry, 1894–1981, Sok[c]rates genannt, brit. Biologe und Philosoph, verh. mit Eden Woodger (vielleicht hast Du auch mal früher Sonderdrucke von ihm bekommen) und seine FrauPWoodger, Eden, verh. mit Joseph Henry Woodger sind sehr liebe Menschen. Wir waren mehrmals einige Tage bei ihnen auf dem Lande und haben uns da sehr wohlgefühlt. Frau W[oodger]PWoodger, Eden, verh. mit Joseph Henry Woodger brachte uns mal im Auto zu Russel[l]PRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell nach Harting, in sein einsames Haus. Ich war sehr erfreut, R[ussell]PRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell endlich mal persönlich kennen zu lernen, was ich mir seit vielen Jahren gewünscht hatte. Er war sehr lebhaft, seine 62 Jahre merkt man ihm nicht an; eine sehr eindrucksvolle Persönlichkeit.

Ich freue mich sehr, daß Du mir einen Durchschlag Deiner ErwiderungB auf LewisPLewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. PhilosophB schicken willst. Vielleicht komme ich auch bald dazu, meine zu schreiben. Falls Du noch einen weiteren Durchschlag hast, würde vermutlich Dr. NagePNagel, Ernest, 1901–1985, am. Philosoph, verh. mit Edith Nagell sehr interessiert sein, ihn zu lesen; er ist in Wien, ich weiß nicht, wo er wohnt, seine Adr. ist: c/o American Express Co., Wien I., Kärtner Ring 14. – Meine frühere Skizze werde ich jetzt wahrsch[einlich] der Erwiderung nicht mehr zugrunde legen. Das über die beiden Flügel des Wiener KreisesISchlick-Zirkel, Wiener Kreis werde ich wohl weglassen. (Du findest meine Darstellung der Auffassungen des rechten Flügels nicht zutreffend; das verstehe ich nicht recht; ich habe doch fast nichts über ihn gesagt; nur, daß er unsre Auffassung ablehne, daß Sätze niemals vollständig verifizierbar seien; daß Du dies tatsächlich ablehnst, hast Du doch in dem Aufsatz über das Fund[ament] d[er] Erk[enntnis]BSchlick, Moritz!1934@„Über das Fundament der Erkenntnis“, Erkenntnis 4, 1934, 79-99 sehr deutlich gesagt, nämlich daß es auch Sätze gebe, die wohl vollst[ändig] verifizierbar sind.) – Das mit der log[ischen] Möglichkeit hast Du mißverstanden, wohl infolge der kurzen Formulierung. Der letzte Absatz meint: ein Satz ist grundsätzl[ich] verifizierbar, wenn aus ihm Bedingungssätze für Beobachtungssätze ableitbar sind (z. B. aus dem Satz „Auf der Rückseite des Mondes ist ein Krater von der und der Gestalt“; ableitbar ist „Wenn jemand dorthin reist, sieht er das und das“); ich habe dann gefordert, daß die Bedingungen („jemand fährt auf die Rückseite des Mondes“) nicht im Widerspruch zu den bekannten Naturgesetzen stehen; das Implikat, der bedingte Beobachtungssatz, mag dagegen sein wie er will; von ihm wird nicht Verträglichkeit mit den Naturgesetzen gefordert, denn sonst könnte man allerdings (wie Du richtig bemerkst) kein Naturgesetz widerlegen.

Kürzlich habe ich das BuchBPopper, Karl R.!1935@Logik der Forschung, Wien, 1935 von PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper bekommen. Ich stimme ganz mit Dir überein: im Inhalt gut, aber überflüssige Abweisung der Richtungen, zu denen er selbst gehört (Empirismus, Positivismus, Konventionalismus, diese Bezeichnungen im Sinne unsrer Auffassungen verstanden). 🕮

Abel ReyPRey, Abel, 1873–1940, fr. Philosoph schreibt mir, daß er ein MS von Dir über psychol. und physikal. BegriffeB bekommen hat. Da ich ebenfalls im Januar einen Beitrag zu seiner Enquête schreiben will, und zwar auch über ein verwandtes Thema, wäre mir Zusendung eines Durchschlags Deines deutschen Originals lieb, falls das möglich ist. R[ey]PRey, Abel, 1873–1940, fr. Philosoph will mir später Deinen Aufsatz in franz. ÜbersetzungB schicken, aber das wird vielleicht zu spät.

Ich freue mich sehr, daß Dir der Italienaufenthalt im Okt. so gut getan hat. – Wir fahren vielleicht jetzt einige Tage ins Riesengebirge. Es hängt vom Wetter ab. Wenn nicht, dann wahrsch[einlich] in den Februarferien. Aber vielleicht werden die wegen des Studentenstreiks im Nov. gekürzt oder gestrichen.

Mit herzlichen Grüßen und den besten Wünschen für das neue Jahr‚

Dein
R. Carnap

Wie stehts mit Waismanns Buch?

Brief, msl., 2 Seiten, MS 95/Carn-43 (Dsl. RC 029-28-03); Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. Rudolf Carnap  /  Prag XVII.  /  N. Motol, Pod Homolkou 146, msl. Prag, den 27. Dez. 1934.


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