Carnap an Neurath, Prag, 11. November 1934 Rudolf Carnap an Otto Neurath, 11. November 1934 November 1934

Lieber Neurath‚

besten Dank für Briefe vom 24.9., 6.10., 26.10., 8.11. Entschuldige, daß Du so lange keine Antwort bekommen hast. Aber in London war keine Zeit und keine Maschine, und hier war zunächst auch gewaltiger Trubel.

Nun meine Englandeindrücke. Von den Fachphilosophen ist an unsern Dingen die StebbingPStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin am meisten interessiert. Sie ist wahrscheinlich in keiner Richtung selbständige Denkerin, aber sie scheint die Dinge doch meist zu kapieren und bringt sie gut und handwerklich auch ihren Schülerinnen bei. An die Vorträge waren keine offiziellen Diskussionen geknüpft‚ aber sie arrangierte einmal einen Diskussionsabend mit Professoren (auch aus CambridgeIUniversity of Cambridge, Cambridge UK u. OxfordIUniversity of Oxford, Oxford UK) und zweimal Diskussionen mit ihren Hörerinnen. Die letzteren waren wesentlich besser orientiert und stellten ganz vernünftige Fragen. Die StebbingPStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin selber spricht ja kaum; so daß man nicht genau weiß, wie weit sie zustimmt. Aber sie hat doch immerhin vor dem ersten Vortrag, als sie mich einführen mußte, gesagt, daß sie keinen andern Mann lieber hier sprechen sähe („meist ist man als Chairman gezwungen, Lügen zu sagen. Ich bin sehr froh, daß ich heute einmal ganz aufrichtig sein darf, und dabei doch mit Recht alles Lob über Prof. Carnap sagen kann“). Sie war sehr nett zu uns – so weit das eben bei einem so sehr zurückhaltenden Menschen möglich ist. OgdenPOgden, Charles Kay, 1889–1957, brit. Linguist und Philosoph und siePStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin scheinen sich gegenseitig nicht zu lieben. Sie sagte, 🕮{}ihre Antipathie gegen ihn gründe darauf, daß bei ihm alles Geschäft sei, er Schandhonorare zahle u. dgl. Kennst Du sie eigentlich persönlich? Sie ist beinahe so groß wie ich, aber dazu sehr breit und massig, hat Gretchenfrisur und Kleider, die irgendwie an Mädchenpensionat erinnern. Sieht eigentlich sehr wie eine Deutsche aus. Mit OgdenPOgden, Charles Kay, 1889–1957, brit. Linguist und Philosoph hatten wir eine Menge nicht endender Gespräche. Abgesehen davon, daß er gewisse Dinge mit mir besprechen wollte wie Esperanto u. dgl., veranlaßte er auch immer, daß alle andern Leute, die ich sprechen wollte, sich in seinem Institut einfanden, sodaß alles doch zumindest unter seinem Protektorat verlief. Wir waren auch mit ihm in Cambridge, wo er uns mit RichardsPRichards, Ivor Armstrong, 1893–1979, brit. Literaturkritiker zusammenbrachte. Ich hatte eine interessante Diskussion mit BernalPBernal, John Desmond, 1901–1971, brit.-ir. Physiker, einem jungen Kristallografen aus Cambridge, der sehr originelle Ideen hat. RichardsPRichards, Ivor Armstrong, 1893–1979, brit. Literaturkritiker und OgdenPOgden, Charles Kay, 1889–1957, brit. Linguist und Philosoph sind in vielem mit uns einer Meinung, haben aber beide Abneigung gegen Formeln. Immerhin wird OgdenPOgden, Charles Kay, 1889–1957, brit. Linguist und Philosoph mit seinen vielfältigen Interessen und seiner Betriebsamkeit doch eine Art von Zentrum in England für uns bedeuten. Dann war da noch der Biologe WoodgerPWoodger, Joseph Henry, 1894–1981, brit. Biologe und Philosoph, der ein Axiomensystem der Biologie aufstellt; gescheite und bedeutungsvolle Arbeit. ErPWoodger, Joseph Henry, 1894–1981, brit. Biologe und Philosoph, StebbingPStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin und vielleicht OgdenPOgden, Charles Kay, 1889–1957, brit. Linguist und Philosoph wollen nach ParisIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 kommen. Einen Nachmittag waren wir auch bei RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, er ist noch immer sehr munter und keineswegs senil, interessiert sich auch noch für Wissenschaft; ich habe ein wenig mit ihm diskutiert; die „Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 hatte er noch nicht gelesen, und gegen den Physikalismus hatte er Antipathien. Dann war da noch ein Gespräch mit Morris GinsbergPGinsberg, Morris, 1889–1970, brit. Soziologe von der School of EconomicsILondon School of Economics, mit dem ich auch etwas über Physikalismus debattierte, und dem ich einige Mißverständnisse aufklären konnte, er hatte uns zu sehr mit den dogmatischen Behaviouristen in einen Topf geworfen. Ich empfahl ihm auch, Deine „Soziologie“BNeurath, Otto!1931@Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, Wien, 1931 für sein Institut anzuschaffen.

So, und nun stelle ich fest, daß dieser kurze Bericht immer noch sehr viel ausführlicher ist als Deine Berichte, wenn Du in neue Städte kommst: Du schreibst nämlich nie Näheres! Nimm es Dir zu Herzen – geh hin und tue desgleichen!

Es würde mich z. B. sehr interessieren, über Deine Diskussion mit BohrPBohr, Niels, 1885–1962, dän. Physiker Genaueres zu hören.

Hier habe ich Hochbetrieb. Zwei neue Vorlesungen, die viel Vorbereitungsarbeit machen; in den nächsten Wochen kommt auch NagelPNagel, Ernest, 1901–1985, am. Philosoph, verh. mit Edith Nagel und ein SchülerPBachmann, Friedrich, 1909–1982, dt. Mathematiker von ScholzPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph. Die „Scientia“IScientia, Zeitschrift will schon seit langem einen AufsatzB1936@„Existe-t-il des prémisses de la science qui soient incontrôlables? Trad. par H. Buriot-Darsiles“, Scientia 60 (293), 1936, 129–135. Na und so allerhand Kram.

Euch allen herzliche Grüße von uns beiden.

Dein
Carnap

Ich will mein MSB1936@„Die Methode der logischen Analyse“, Actes du Huitième Congrès International de Philosophie à Prague. 2 – 7 septembre 1934, Prag, 1936, 142–1455Der Titel von Carnaps Vortrag bei der Vorkonferenz lautete „Gegenstand unserer Forschung – Wissenschaftslogik“ (Erkenntnis 5, 1935,  1), publiziert als Carnap, „Formalwissenschaft und Realwissenschaft“ (siehe auch oben, Brief Nr. ). nennen: „Formalwissenschaft und Realwissenschaft“. Oder findest Du besser: „Über das logische Verhältnis zwischen Realwissenschaft und Formalwissenschaft“? Oder wie sonst?cHsl. Einschub. Ich sende das MSB1936@„Die Methode der logischen Analyse“, Actes du Huitième Congrès International de Philosophie à Prague. 2 – 7 septembre 1934, Prag, 1936, 142–145 bald. Bitte schreib Änderungsvorschläge wenn Du welche hastdHsl. Einschub. mit Bleistift hinein und schick es mir zurück.

Brief, msl., 2 Seiten, ON 219 (Dsl. RC 029-10-15); Briefkopf: gedr. Prof. Dr. Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.\,/\,Pod Homolkou 146, msl. den 11. November 1934. Die wenigen hsl. Einschübe wurden im Dsl. ksl. vorgenommen.


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