Rudolf Carnap an Bernhard Bavink, 2. November 1934 November 1934

Reflexionen machen es teilw. unleserlich. Transkription davon fast nicht betroffen, aber meine Kontrolle nicht immer möglich.

Sehr geehrter Herr Kollege!

Soeben habe ich mit lebhaftem Interesse Ihre ErwiderungB im Okt.-Heft auf SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy SchlickB und mich gelesen. Trotz aller Gegensätze freue ich mich stets an der Klarheit Ihrer Darlegungen. Ich möchte ganz kurz einige Bemerkungen dazu machen.

Bei dem, was Sie zu SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick sagen, habe ich das Gefühl, daß der Gegensatz zwischen Ihnen und mir gerade in diesem Punkt nicht so groß ist, wie Sie meinen. Ich stimme Ihnen darin bei, daß wir auch in den Prot[okoll]sätzen kein absolutes Fundament der Erkenntnis haben, ja daß die Forderung nach irgendeinem solchen absolut sicheren Fund[ament] unberechtigt und unerfüllbar ist; daß die Wissenschaft mit einem Wagnis beginnen muß, daß alles stets provisorisch ist und eines Umbaus gewärtig sein muß. Im Unterschied zu den früheren Auffassungen des Wiener KreisesISchlick-Zirkel, Wiener Kreis (auch meinen eigenen) und den noch gegenwärtig von SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick vertretenen habe ich diesen Standpunkt z. B. auf der Schlußseite des Aufsatzes über die Prot[okoll]sätzeB zum Ausdruck gebracht (Erk.IErkenntnis, Zeitschrift 3, S. 228).

Nebenbei möchte ich bemerken (was aber nicht wichtig ist), daß Ihre Meinung, wir seien meist Mathematiker, nicht zutrifft. Wir sind meist Physiker. Nur HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn– der im Juli plötzlich gestorben ist, - war Math[ematiker]. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank ist Physiker; SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick hat bei NernstPNernst, Walther, 1864-1941, dt. Physiker und Chemiker promoviert; ich hatte während meines Studiums Physik als Hauptfach und habe lange experimentell gearbeitet. NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath ist Nat[ional]-Ökonom.

Bei Ihrer Erwiderung auf meine „Wissenschaftslogik“B1934@„Die Aufgabe der Wissenschaftslogik“, Einheitswissenschaft Heft 3, 1934 bedaure ich lebhaft, daß Sie anscheinend mein Buch „Logische Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 noch nicht in Händen haben und darum Ihre Diskussion an jene BroschüreB1934@„Die Aufgabe der Wissenschaftslogik“, Einheitswissenschaft Heft 3, 1934 angeknüpft haben, die nur eine populäre Darstellung einiger Gedanken des BuchesB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 (bes. des Schlußkapitels „Philosophie und Syntax“) ist und sich wegen der Unschärfe der Darstellung und bes. der Definitionen (bes. von „formale“ u. „inhaltl[iche] Redeweise“) gar nicht als Grundlage für eine scharfe Diskussion eignet. Die „Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 (diesen Terminus habe ich anstelle des früheren „Semantik“ genommen) ist das in meinem früheren Brief angekündigte Buch. In ihm glaube ich gezeigt zu haben, daß Syntax Mathematik der Sprachformen, und daß Wissenschaftslogik Syntax der Wissenschaftssprache ist. Damit ist, wie mir scheint, auch Ihre alte Frage beantwortet.

Ich hoffe, daß Sie, wenn Sie das BuchB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 gelesen haben werden, nicht mehr meinen werden, daß man „mit der gleichen Methode…jedes Realproblem in ein bloßes Bezeichnungs- oder Sprachproblem verwandeln“ kann. Das ist sicherlich nicht der Fall. Nur von gewissen Sätzen der (Wiss[enschafts]-)Logik behaupte ich, daß sie Pseudo-Objektsätze sind; die Sätze der Realwiss[enschaften] sind echte Objektsätze; und zwischen diesen beiden Satzarten kann deutlich unterschieden werden.

Ich hatte den Verlag J. SpringerISpringer Verlag (Wien, I, Schottengasse 4) im Juli gebeten, Ihnen ein Rez.-Ex. der „Log. Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 für U[nsere] W[elt]IUnsere Welt, Zeitschrift zu schicken. Das scheint er nicht getan zu haben. Er ist überhaupt sehr zurückhaltend mit der Versendung von Rez.-Ex. und begründet das mit früheren schlechten Erfahrungen, indem viele Ex. nicht besprochen worden sind. Falls Sie geneigt sind, das BuchB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 zu besprechen (es genügt ja, wenn Sie einige Hinweise auf das Schlußkapitel geben, ohne daß Sie auf die formal-techn[ischen] Fragen der andern Kap. einzugehen brauchen), so ist es sicher am besten, wenn Sie selbst an SpringerPSpringer, Julius der Jüngere, 1880–1968, dt. Verleger schreiben, und die Zusicherung geben, daß das BuchB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 besprochen werden wird. Sollte er ablehnen, so schreiben Sie es mir bitte, damit ich dann nochmal einen Versuch mache, ihn zu drängen.

Mit besten Grüßen

Ihr
ksl.

Brief, msl. Dsl., 2 Seitenunklar, wo Seitenumbruch, RC 028-04-01; Briefkopf: msl. Prag, den 2. November? 1934  /  Herrn Prof. B. Bavink  /  Bielefeld.


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