\brief{Rudolf Carnap an Felix Kaufmann, 23. Oktober 1934}{Oktober 1934} %, den 23.Oktober 1934. \anrede{Lieber Herr Kaufmann,} \haupttext{verzeihen Sie bitte, daß ich Ihnen erst heute für all Ihre guten Ratschläge, den Brief nach dem Haag und den Brief nach London danke. Ich war in London so besetzt, daß ich nicht zum Schreiben kam; noch dazu war ich ohne Schreibmaschine. Die Londoner Zeit war sehr interessant und anregend für uns beide. Sie war natürlich anstrengend, aber ich war doch sehr froh, die Gelegenheit gehabt zu haben, so viele interessante Menschen kennengelernt zu haben. Von der Stadt haben wir nur wenig gesehen, es waren immerzu Verabredungen mit Leuten. Von Ihren Bekannten haben wir nur Mrs. Grant\IN{\grantirene} und Prof. Ginsberg\IN{\ginsberg} aufgesucht; ich war mit Ausnahme der zwei ersten Tage immer so besetzt, daß es mir nicht möglich war, noch andere aufzusuchen, obwohl ich z.\,B. Prof. Hayek\IN{\hayek} sehr gerne wieder gesehen hätte. Wir waren einen Nachmittag bei Mrs. Grant\IN{\grantirene}, bei ihr war Dr. Polanyi\IN{\polanyi} mit Frau\IN{\polanyifrau}. Sie war sehr lieb und freundlich zu uns. Dadurch daß P[olanyi]\IN{\polanyi} dort war, kamen wir allerdings nicht viel dazu, mit ihr zu sprechen; sie hielt sich so bescheiden still, und er erzählte viel von seinen Englandeindrücken. Es scheint, daß er Hoffnung hat, dort eine Anstellung zu bekommen. Wir sollen Ihnen von Mrs. Grant\IN{\grantirene} sehr herzliche Grüße ausrichten. Sie war uns sehr sympathisch und wir haben bedauert, daß unsere Zeit nicht für einen zweiten Besuch reichte. -- Mit Ginsberg\IN{\ginsberg} habe ich zwei Mal gesprochen. Das erste Mal haben wir ihn\IN{\ginsberg} in seinem Zimmer in der Schule aufgesucht, das zweite Mal haben wir ihn\IN{\ginsberg} und seine Frau bei einem offiziellen Universitätsdinner getroffen. Er war an unseren Problemen interessiert, wir haben auch einige Punkte aufgeklärt, in denen er uns mißverstanden hatte; aber in wichtigen Punkten weicht er doch sehr von uns ab. Z.\,B. will er normative Ethik betreiben. Er will Ihre Rezension\IW{} meiner ,,Syntax``\IC{\logischesyntax} gerne annehmen, wenn in ihr vor allem die Bedeutung für die Sozialwissenschaften dargestellt wird. Er will das Buch\IC{\logischesyntax} von Springer\II{\springerverlag} anfordern; vielleicht erinnern Sie ihn daran, falls er es Ihnen nicht bald schickt. -- Den Sonderdruck\IW{} von Isaac\IN{} schicke ich Ihnen zurück; ich habe ihn nicht besucht. Auf der Hinreise besuchten wir Neurath\IN{\neurath} im Haag, eigentlich mehr um seine Frau\IN{\neuratholga} zu sehen, da ich ihn ja auf dem Kongreß\II{\kongressphilosophieprag} gesprochen hatte. Sie lebt dort recht einsam. Sie haben noch gar keinen Anschluß gefunden. Ich habe sie mal mit dem Amsterdamer Mathematiker Mannoury\IN{\mannoury} zusammengebrecht; aber das ist ein alter Herr, der die Reise von Amsterd[am] nach dem Haag nicht leicht wiederholen wird. Olga N[eurath]\IN{\neuratholga} ist beherrscht und tapfer wie immer, aber es scheint doch, daß ihr das Leben dort schwer fällt. Dazu kommen die Sprach- und Geldschwierigkeiten. Hahns\IN{\hahnhans} Tod hat sie auch tief getroffen. \neueseite{} Auf der Rückreise haben wir Hempel\IN{\hempel} besucht, der Sie sehr herzlich grüßen läßt. Es geht ihm dort eigentlich recht gut, wenn man davon absieht, daß er wenig Zeit für eigene Arbeit übrig behält. Aber es scheint, daß er mit seiner Freundin ein sehr nettes Zusammenleben hat, und daß ihm das gut tut. Ich glaube, die Verabredung mit Oppenheim\IN{\oppenheim} läuft zunächst bis zum Herbst. Wir haben in England die ganze Zeit im Shelbourne Hotel gewohnt, wie Sie es uns empfohlen hatten. Es war wirklich sehr billig und sauber; gerade das Richtige für uns. Wir haben meist im dritten Stock gewohnt: Zimmer mit Frühstück und Bad 2 \pounds{} pro Woche! Meine Frau\IN{\ina} war von der Untergrundbahn wirklich so begeistert, wie Sie es ihr prophezeit hatten. Sie hatten so großen Spaß daran, daß sie sie sogar immer dann benutzte, wenn es mit dem Autobus näher gewesen wäre. Mit der Sprache ist es ganz gut gegangen. Wir waren zwar am Abend immer ganz erledigt von der Konzentration, die Zuhören und Sprechen erforderten, aber es ging alles ganz gut. Auch in den Vorträgen, bei denen ich aber doch teilweise aus dem MS\IC{\londonervortraege} las, weil ich mich nicht ganz sicher fühlte. Aber alle Diskussionen und -- was viel schwerer war -- alle Teekonversationen habe ich doch frei und einigermaßen fließend erledigen können. Meiner Frau\IN{\ina} fiel Verstehen und Sprechen natürlich viel leichter, besonders Frauengespräche (die zumeist viel schneller und wortreicher waren) und Höflichkeitskonversationen, wie sie z.\,B. bei den offiziellen Tees und Dinners des Colleges gemacht wurden. Wir waren richtig froh, zu zweit gefahren zu sein. Haben Sie nochmals vielen herzlichen Dank für alle Hilfe und guten Ratschläge. Und grüßen Sie Ihre liebe Frau\IN{\kaufmannfrau} sehr herzlich von uns beiden! Wie haben Sie denn das Hansi\IN{} vorgefunden? Wir hatten uns so gefreut, daß Sie beide in Prag und bei uns waren! Mit sehr herzlichen Grüßen} \grussformel{Ihr\\ R. Carnap} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870018}{FK 008201-008202 (Dsl. RC 028-21-05)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Prag XVII. \,/\, Pod Homolkou 146}, msl. \original{den 23.\,Oktober 1934}.}