\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap, 1. Juli 1934\labelcn{1934-07-01-Neurath-an-Carnap}}{Juli 1934} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Vielen Dank für die Mitteilungen. Mein Mskpt\IW{} geht umgehend an das Sekretariat ab. Vielleicht teilst Du das der Sicherheit halber noch mit. Ich bin glücklich, daß Du mich aus der fremdartigen Umgebung herausnimmst. Aber der ganze Kongreß\II{\kongressphilosophieprag} ist ja höchst sonderbar komponiert. Da ich in einem Vortrag sehr gerne an meine Vorredner anknüpfe, bitte ich Dich, was auch sinnvoll ist, die Reihenfolge: Morris\IN{\morris}, Ajdukiewicz\IN{\ajdukiewicz}, Neurath\IN{\neurath} und dann Reichenbach\IN{\reichenbach}, Zawirski\IN{\zawirski} zu wählen, die beide was Gemeinsames behandeln. Die Mittwoch-Leute kenne ich zu wenig. Aber ich meine, daß die ,,Spezielleren``, wie Kaufmann\IN{\kaufmannfelix} und Flewelling\IN{} an den Schluß gehören. Nagel\IN{\nagel}, Ingarden\IN{\ingarden}, Kastil\IN{\kastil} an den Anfang. Aber vielleicht hast Du da für die Anordnung besondere Gründe gehabt. Jedenfalls bitte ich Dich sehr, mit der von mir vorgeschlagenen Dienstagordnung ,,conform`` zu gehen. Nach Marienbad\II{\vorbesprechunginprag}, schrieb mir Rougier\IN{\rougier}, will er die ,,romanisch`` Sprechenden einladen und bat mich, die Deutsch und Engl[isch] Sprechenden einzuladen, wozu er auch die Polen rechnet. Das geschieht in dem seinerzeit angegebenen Umfang und überdies sollen noch einige wenige dazu kommen. Bitte sag mir Grellings\IN{\grelling} Adresse, er gehört selbstverständlich hin. Hast Du Dubislavs\IN{\dubislav} Privatadresse? Vielleicht wird die Reaktion, die jetzt in Deutschland einsetzt, der ,,freien`` Wissenschaft sogar etwas Luft lassen, schon um den Unterschied zu markieren. Wer weiß. Am nettesten wärs, Dubislav\IN{\dubislav} könnte in Marienbad\II{\vorbesprechunginprag} reden. Ich schlugs nicht vor, um ihn nicht in Ungelegenheiten zu bringen. \neueseite{} Ich überlege, ob man Oppenheim\IN{\oppenheim} und Hempel\IN{\hempel} einladen soll. Hempel\IN{\hempel} gehört wohl hin. Ich weiß nicht, wie Oppenheim\IN{\oppenheim} sich verhält. Er will uns doch immer sehr fördern. Soll man den Ing[enieur] Strauß\IN{} einladen? Er kommt zum intern[ationalen] Phil[osophie-]Kongreß\II{\kongressphilosophieprag} und hat in der schwierigen Situation es übernommen, als Adresse für den Verein Ernst Mach\II{\machverein} zu dienen, hat die Mach-Brochüren\II{\veroeffmach} mit finanziert usw. Ich hätte viel, was dafür spricht ihn einzuladen. Er stört sicher nicht und hat, wie ich in Paris sah, überall Beziehungen, die unseren Bestrebungen freundlich gegenüberstehen. Kannst Du mir noch sagen, wen man nach Marienbad\II{\vorbesprechunginprag} einladen soll? Engländer, Amerikaner, vor allem solche, die ohnehin zum int[ernationalen] Kongreß\II{\kongressphilosophieprag} kommen. Die Organisation der Marienbader Sache\II{\vorbesprechunginprag} ist erschwert, weil Philipp Frank\IN{\frankphilipp} wenig reagiert -- was sehr begreiflich ist. Eine scheußlich Sache, eine so scheußliche Sache. So ein Defekt ist gar nicht gut für Frank\IN{\frankphilipp}. Fränzchen\IN{\rohfranz} hat ja auch durch seinen Defekt Ungutes in sein Behavior bekommen.\fnE{Franz Roh hatte durch ein angeborenes Hüftleiden ein verkürztes Bein.} Sehr begreiflich. Es ist schwer zu sagen, wie man Dich besser ,,ausnützt``. Ob als Vorsitzenden am Montag oder als Redner. Ich würde zipfeln\fnE{In Österreich umgangssprachlich für ,,auslosen``.}. Wir sind so arm vertreten, zumal Schlick\IN{\schlick} sich von uns immer mehr abwendet. Was wird denn Frank\IN{\frankphilipp} tun? Ich würde mich sehr gern von Dubislav\IN{\dubislav} oder Boll\IN{\boll} bevorsitzen lassen. Einmal sollte Boll\IN{\boll} vorsitzen, damit nicht nur ,,Deutsche`` als Vorsitzer auftreten. Der ganze Kongreß\II{\kongressphilosophieprag} wirkt etwas zusammengeflickt. Schuld ist die wenig glückliche Wahl der Gruppentitel. Man könnte die Vorträge sicher anmutiger kombinieren. Aber es ist nicht leicht, so eine Architektur aufbauen, wenn man, wie Rádl, kein wirkliches Programm hat. \neueseite{} Wenn Du Montag Nachmittag präsidierst, kannst Du in der kurzen Eröffnungsansprache vieles sagen, was uns sehr nützt. Auch die Diskussion beeinflussen. Andererseits ist ein Vortrag von Dir auf alle Fälle eine feine Angelegenheit. Schade, daß nicht beides geht. Die Anteile der Autoren, die Zahl der Freiexemplare ist in der Sammlung Einheitswiss[enschaft]\II{\einheitswissenschaftschriftenreihe} unverändert geblieben. Ich werde im Büro nachsehn, wie das jetzt ist. Dadurch, daß wir uns mit einem Kostenbeitrag von hier aus am Druck beteiligen, ändert sich der Anteil des Autors \gesperrt{nicht}. Ich glaube, es ist kein Unglück, daß Deine Nr. klein ist, sie wird billig sein, und vor allem ist sie wirklich erfreulich. Warum länger sein als nötig. Ich glaube, diese Publikation wird unseren Bestrebungen sehr nützen. Aber es ist ja alles so kompliziert geworden. Und schwierig. Wenig erfreulich ists, daß Rougier\IN{\rougier} eine so zugespitzte Kritik gegen die russ[ische] Denkweise richtet, sozusagen zugunsten einer Demokratie.\fnE{Siehe dazu unten, Brief Nr.~\refcn{1934-07-08-Carnap-an-Neurath}.} Die uns bekannten metaphys[ischen] Elemente erscheinen als ins Gigantische verzerrte Schatten. Bin neugierig, wie Marienbad\II{\vorbesprechunginprag} und Paris\II{\pariserkongress} ausfallen werden. Es kann sehr nett werden. Wenn nur Frank\IN{\frankphilipp} bei Stimmung ist. Er ist ein so wichtiges Verbindungsglied. Vergiß nicht, Mises\IN{\mises} in der Kongreßorganisation des int[ernationalen] Philosophenkongresses\II{\kongressphilosophieprag} irgendwie unterzubringen. Er legt, glaube ich, Gewicht auf derlei. Grüß mir sehr Fränzchen\IN{\rohfranz}, und Hilde\IN{\rohhilde}, Hansmanns\IN{} \IN{} und Maue\IN{\maue} und alle von Olga\IN{\neuratholga} auch. Du kannst allen unsere Adresse geben. Ich schrieb nie, einmal gewarnt -- ausdrücklich. Und einmal \neueseite{} gab Maue\IN{\maue} keine Antwort. Ich kann nicht von hier aus eine eventuell dort für nötig erachtete Vorsicht durchkreuzen. Auf Umwegen suchte ich in Verbindung zu kommen. Vergeblich. Bitte sag das allen. Olga\IN{\neuratholga} geht es einsam -- wir haben noch keinen rechten Verkehr. Das Normalleben geht glatt, da Bäcker, Gemüsemann, Melkbauer usw. ans Haus kommen und Olga\IN{\neuratholga} sich allmählig ins Holländische eingewöhnt. Sie liest einen holl[ändischen] Roman. Heute las ich ihr die aufregenden Nachrichten aus Deutschland vor, wo eine Reaktion über die andere siegt. Bis auf wenige Sätze, die aber das Verständnis nicht störten, haben wir alle verstanden. Methodisch, wie sie ist, liest sie sogar eine holl[ändische] Grammatik in Blindenschrift. Da wir einen Anschluß an eine Radioempfangstation haben (Auswahl drei Gruppen, zwei holl[ändische] Sender und eine intern[ationale] Mischung) gibts immer was für sie. Heute war schon mehrmals Beethoven, Verdi usw. usw. Olga\IN{\neuratholga} läßt Euch grüßen. Wir hoffen sehr, Dich doch bei einer Durchreise zu sehn. Du kannst mühelos bei uns wohnen, da wir ein bescheidenes Fremdenzimmer haben -- mein kleiner isolierter Arbeitsraum im Unterstock. Das Leben ist natürlich voller Schwierigkeiten im besondern und im allgemeinen. Und man muß sich wundern, daß es doch bis jetzt ,,geht``. Es tröpfelt sogar wieder Geld, besonders aus USA.\fnE{Zu den bereits zu dieser Zeit bestehenden Kontakten und Kooperationen Neuraths mit Personen und Institutionen in den USA siehe Sandner, \textit{Otto Neurath}, S.~241f.} Neue Möglichkeiten kommen, wenn eine ältere sich abschwächt, aber es ist noch nicht die richtige Balance erreicht. Weit mehr Chancen, als wir gewohnt sind. Wir haben ein wunderbares Büro, mitten im Grünen,\fnE{In dieser ersten Zeit in Den Haag stellte Mary L. Flédderus ein Zimmer in ihrer geräumigen Wohnung (232 Badhuisweg) zur Verfügung; vgl. Marie Neurath, ,,Woran ich mich erinnere``, S.~54.} und leben eigentlich in einem Idyll. Aber die Welt ist greulich. Vielen Dank für den Vortragsbericht. Wie ging das weiter? Leb wohl, gute Grüße, alles Beste} \grussformel{Dein\\ON} \briefanhang{Grüß sehr \gesperrt{INA}\IN{\ina}!!!} \briefanhang{\textkritik{Antwort auf Schlick kommt. Was denkst Du über ihn?}\fnA{Hsl. Einschub am unteren linken Seitenrand}} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/828707}{RC 029-10-58 (Dsl. ON 219)}; Briefkopf: msl. \original{Den Haag 1.~Juli 1934}.}