Otto Neurath an Rudolf Carnap, 1. Juli 1934 Juli 1934

Lieber Carnap!

Vielen Dank für die Mitteilungen. Mein MskptB geht umgehend an das Sekretariat ab. Vielleicht teilst Du das der Sicherheit halber noch mit.

Ich bin glücklich, daß Du mich aus der fremdartigen Umgebung herausnimmst. Aber der ganze KongreßIInternationaler Kongress für Philosophie@8. Internationaler Kongress für Philosophie, Prag, 2.-7.IX.1934 ist ja höchst sonderbar komponiert.

Da ich in einem Vortrag sehr gerne an meine Vorredner anknüpfe, bitte ich Dich, was auch sinnvoll ist, die Reihenfolge: MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, bis 1951 verh. mit Trude Morris, danach mit Ellen Ruth Morris, AjdukiewiczPAjdukiewicz, Kazimierz, 1890–1963, poln. Philosoph, NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath und dann ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach, ZawirskiPZawirski, Zygmunt, 1882-1948, poln. Philosoph zu wählen, die beide was Gemeinsames behandeln. Die Mittwoch-Leute kenne ich zu wenig. Aber ich meine, daß die „Spezielleren“, wie KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph, verh. mit Else Kaufmann und FlewellingP an den Schluß gehören. NagelPNagel, Ernest, 1901–1985, am. Philosoph, verh. mit Edith Nagel, IngardenPIngarden, Roman, 1893-1970, poln. Philosoph, KastilPKastil, Alfred, 1874-1950, öst. Philosoph an den Anfang. Aber vielleicht hast Du da für die Anordnung besondere Gründe gehabt. Jedenfalls bitte ich Dich sehr, mit der von mir vorgeschlagenen Dienstagordnung „conform“ zu gehen.

Nach MarienbadIVorkonferenz der internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft, Prag, 31.VIII.-2.IX.1934, schrieb mir RougierPRougier, Louis, 1889–1982, fr. Philosoph, will er die „romanisch“ Sprechenden einladen und bat mich, die Deutsch und Engl[isch] Sprechenden einzuladen, wozu er auch die Polen rechnet. Das geschieht in dem seinerzeit angegebenen Umfang und überdies sollen noch einige wenige dazu kommen. Bitte sag mir GrellingsPGrelling, Kurt, 1886–1942, dt. Philosoph Adresse, er gehört selbstverständlich hin. Hast Du DubislavsPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph Privatadresse? Vielleicht wird die Reaktion, die jetzt in Deutschland einsetzt, der „freien“ Wissenschaft sogar etwas Luft lassen, schon um den Unterschied zu markieren. Wer weiß. Am nettesten wärs, DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph könnte in MarienbadIVorkonferenz der internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft, Prag, 31.VIII.-2.IX.1934 reden. Ich schlugs nicht vor, um ihn nicht in Ungelegenheiten zu bringen. 🕮

Ich überlege, ob man OppenheimPOppenheim, Paul, 1885–1977, dt.-am. Industrieller und Philosoph, verh. mit Gabrielle Oppenheim und HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel einladen soll. HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel gehört wohl hin. Ich weiß nicht, wie OppenheimPOppenheim, Paul, 1885–1977, dt.-am. Industrieller und Philosoph, verh. mit Gabrielle Oppenheim sich verhält. Er will uns doch immer sehr fördern. Soll man den Ing[enieur] StraußP einladen? Er kommt zum intern[ationalen] Phil[osophie-]KongreßIInternationaler Kongress für Philosophie@8. Internationaler Kongress für Philosophie, Prag, 2.-7.IX.1934 und hat in der schwierigen Situation es übernommen, als Adresse für den Verein Ernst MachIVerein Ernst Mach zu dienen, hat die Mach-BrochürenIVeröffentlichungen des Vereins Ernst Mach mit finanziert usw. Ich hätte viel, was dafür spricht ihn einzuladen. Er stört sicher nicht und hat, wie ich in Paris sah, überall Beziehungen, die unseren Bestrebungen freundlich gegenüberstehen.

Kannst Du mir noch sagen, wen man nach MarienbadIVorkonferenz der internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft, Prag, 31.VIII.-2.IX.1934 einladen soll? Engländer, Amerikaner, vor allem solche, die ohnehin zum int[ernationalen] KongreßIInternationaler Kongress für Philosophie@8. Internationaler Kongress für Philosophie, Prag, 2.-7.IX.1934 kommen.

Die Organisation der Marienbader SacheIVorkonferenz der internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft, Prag, 31.VIII.-2.IX.1934 ist erschwert, weil Philipp FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank wenig reagiert – was sehr begreiflich ist. Eine scheußlich Sache, eine so scheußliche Sache. So ein Defekt ist gar nicht gut für FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank. FränzchenPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde Roh hat ja auch durch seinen Defekt Ungutes in sein Behavior bekommen.1Franz Roh hatte durch ein angeborenes Hüftleiden ein verkürztes Bein. Sehr begreiflich.

Es ist schwer zu sagen, wie man Dich besser „ausnützt“. Ob als Vorsitzenden am Montag oder als Redner. Ich würde zipfeln2In Österreich umgangssprachlich für „auslosen“.. Wir sind so arm vertreten, zumal SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick sich von uns immer mehr abwendet. Was wird denn FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank tun? Ich würde mich sehr gern von DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph oder BollPBoll, Marcel, 1886–1971, fr. Physiker und Philosoph bevorsitzen lassen. Einmal sollte BollPBoll, Marcel, 1886–1971, fr. Physiker und Philosoph vorsitzen, damit nicht nur „Deutsche“ als Vorsitzer auftreten.

Der ganze KongreßIInternationaler Kongress für Philosophie@8. Internationaler Kongress für Philosophie, Prag, 2.-7.IX.1934 wirkt etwas zusammengeflickt. Schuld ist die wenig glückliche Wahl der Gruppentitel. Man könnte die Vorträge sicher anmutiger kombinieren. Aber es ist nicht leicht, so eine Architektur aufbauen, wenn man, wie Rádl, kein wirkliches Programm hat. 🕮

Wenn Du Montag Nachmittag präsidierst, kannst Du in der kurzen Eröffnungsansprache vieles sagen, was uns sehr nützt. Auch die Diskussion beeinflussen. Andererseits ist ein Vortrag von Dir auf alle Fälle eine feine Angelegenheit. Schade, daß nicht beides geht.

Die Anteile der Autoren, die Zahl der Freiexemplare ist in der Sammlung Einheitswiss[enschaft]IEinheitswissenschaft, Schriftenreihe unverändert geblieben. Ich werde im Büro nachsehn, wie das jetzt ist. Dadurch, daß wir uns mit einem Kostenbeitrag von hier aus am Druck beteiligen, ändert sich der Anteil des Autors nicht. Ich glaube, es ist kein Unglück, daß Deine Nr. klein ist, sie wird billig sein, und vor allem ist sie wirklich erfreulich. Warum länger sein als nötig. Ich glaube, diese Publikation wird unseren Bestrebungen sehr nützen.

Aber es ist ja alles so kompliziert geworden. Und schwierig. Wenig erfreulich ists, daß RougierPRougier, Louis, 1889–1982, fr. Philosoph eine so zugespitzte Kritik gegen die russ[ische] Denkweise richtet, sozusagen zugunsten einer Demokratie.3Siehe dazu unten, Brief Nr. . Die uns bekannten metaphys[ischen] Elemente erscheinen als ins Gigantische verzerrte Schatten.

Bin neugierig, wie MarienbadIVorkonferenz der internationalen Kongresse für Einheit der Wissenschaft, Prag, 31.VIII.-2.IX.1934 und ParisIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 ausfallen werden. Es kann sehr nett werden. Wenn nur FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank bei Stimmung ist. Er ist ein so wichtiges Verbindungsglied.

Vergiß nicht, MisesPMises, Richard von, 1883–1953, öst.-am. Mathematiker in der Kongreßorganisation des int[ernationalen] PhilosophenkongressesIInternationaler Kongress für Philosophie@8. Internationaler Kongress für Philosophie, Prag, 2.-7.IX.1934 irgendwie unterzubringen. Er legt, glaube ich, Gewicht auf derlei.

Grüß mir sehr FränzchenPRoh, Franz, 1890–1965, dt. Kunstkritiker, verh. mit Hilde Roh, und HildePRoh, Hildegard (Hilde), 1890–1945, geb. Heintze, Krankengymnastin, verh. mit Franz Roh, HansmannsPP und MauePGramm, Dorothea, 1896–1975, geb. Stadler, genannt Maue, verh. mit Josef Gramm und alle von OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn auch. Du kannst allen unsere Adresse geben. Ich schrieb nie, einmal gewarnt – ausdrücklich. Und einmal 🕮 gab MauePGramm, Dorothea, 1896–1975, geb. Stadler, genannt Maue, verh. mit Josef Gramm keine Antwort. Ich kann nicht von hier aus eine eventuell dort für nötig erachtete Vorsicht durchkreuzen. Auf Umwegen suchte ich in Verbindung zu kommen. Vergeblich. Bitte sag das allen.

OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn geht es einsam – wir haben noch keinen rechten Verkehr. Das Normalleben geht glatt, da Bäcker, Gemüsemann, Melkbauer usw. ans Haus kommen und OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn sich allmählig ins Holländische eingewöhnt. Sie liest einen holl[ändischen] Roman. Heute las ich ihr die aufregenden Nachrichten aus Deutschland vor, wo eine Reaktion über die andere siegt. Bis auf wenige Sätze, die aber das Verständnis nicht störten, haben wir alle verstanden. Methodisch, wie sie ist, liest sie sogar eine holl[ändische] Grammatik in Blindenschrift. Da wir einen Anschluß an eine Radioempfangstation haben (Auswahl drei Gruppen, zwei holl[ändische] Sender und eine intern[ationale] Mischung) gibts immer was für sie. Heute war schon mehrmals Beethoven, Verdi usw. usw. OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn läßt Euch grüßen. Wir hoffen sehr, Dich doch bei einer Durchreise zu sehn. Du kannst mühelos bei uns wohnen, da wir ein bescheidenes Fremdenzimmer haben – mein kleiner isolierter Arbeitsraum im Unterstock. Das Leben ist natürlich voller Schwierigkeiten im besondern und im allgemeinen. Und man muß sich wundern, daß es doch bis jetzt „geht“. Es tröpfelt sogar wieder Geld, besonders aus USA.4Zu den bereits zu dieser Zeit bestehenden Kontakten und Kooperationen Neuraths mit Personen und Institutionen in den USA siehe Sandner, Otto Neurath, S. 241f. Neue Möglichkeiten kommen, wenn eine ältere sich abschwächt, aber es ist noch nicht die richtige Balance erreicht. Weit mehr Chancen, als wir gewohnt sind. Wir haben ein wunderbares Büro, mitten im Grünen‚5In dieser ersten Zeit in Den Haag stellte Mary L. Flédderus ein Zimmer in ihrer geräumigen Wohnung (232 Badhuisweg) zur Verfügung; vgl. Marie Neurath, „Woran ich mich erinnere“, S. 54. und leben eigentlich in einem Idyll. Aber die Welt ist greulich.

Vielen Dank für den Vortragsbericht. Wie ging das weiter?

Leb wohl, gute Grüße, alles Beste

Dein
ON

Grüß sehr INAPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap!!!

Antwort auf Schlick kommt. Was denkst Du über ihn?aHsl. Einschub am unteren linken Seitenrand

Brief, msl., 4 Seiten, RC 029-10-58 (Dsl. ON 219); Briefkopf: msl. Den Haag 1. Juli 1934.


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