\brief{Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 5. Juni 1934}{Juni 1934} %[Wien] 5. Juni 1934. \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{besten Dank für Deinen Brief. Es tut mir sehr leid, daß der kleine Passus in Deiner Vorrede uns so viel Mühe bereitet; ich glaube aber, die Sache ist ganz einfach. Die Schwierigkeit kommt nur daher, daß Du Wittg[enstein]\IN{\wittgenstein} eine andere Auffassung zuschreiben zu müssen glaubst als er tatsächlich vertritt. Ich teile Dir also hiermit noch einmal ausdrücklich mit, daß W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} gar nicht daran denkt (und zwar mindestens seit vier Jahren), ,,nicht vollständig verifizierbare Sätze abzulehnen``. Er bezeichnet sie natürlich als Hypothesen, wie wir es alle tun; es ist keine Rede von einer ,,Ablehnung``, auch nicht von einer Abneigung, sie ,,Sätze`` zu nennen. Der frühere Standpunkt in dieser Hinsicht war nicht viel mehr als eine terminologische Marotte. Daß man ferner von Tautologieen nur dort sprechen dürfe, wo man ein Entscheidungsverfahren besitzt, ist eine Formulierung, die W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} durchaus nicht vertritt; seine Auffassungen und Ausdrucksweisen sind in jeder Hinsicht viel freier. Waismann\IN{\waismann} und ich haben dies doch seit langem deutlich betont. Meine eigenen Äußerungen in meinem letzten Aufsatz\IW{} dürfen zu Vermutungen über Wittgenst[ein]s\IN{\wittgenstein} Ansichten um so weniger benutzt werden, als ich mich ja auch nicht auf ihn berufe. Da Deine Kenntnis von W[ittgenstein]s\IN{\wittgenstein} neueren Auffassungen sich lediglich auf Waismanns und meine Informationen stützt und ich in der Vorrede ausdrücklich als Gewährsmann zitiert werde, so kannst Du m.\,E. an jener Stelle über W[ittgenstein]\IN{\wittgenstein} nichts anderes sagen als was in den Informationen selbst enthalten ist, also vor allem keine darüber hinausgehenden Vermutungen aufstellen. Den von Dir u.\,a. vorgeschlagenen Satz: ,,Ich nehme hiernach an, daß \ldots{} entwickelt``, halte ich also nicht für zulässig. Auch der Satz ,,Schlick\IN{\schlick} meint hiernach \ldots{}`` ist unmöglich, denn ich äußere keine Vermutung, sondern teile sicheres Wissen mit. Ich sprach heute telephonisch mit Waismann\IN{\waismann}, und er versicherte mir, daß er bei Deinem letzten Wiener Aufenthalt wenigstens die Frage der ,,nicht endgültig verifizierbaren Sätze``, oder vielmehr W[ittgenstein]s\IN{\wittgenstein} Ansicht darüber, ausführlich mit Dir besprochen habe; offenbar erinnerst Du Dich nicht mehr deutlich daran. Ich möchte also vorschlagen (und sehe eigentlich keine andere Möglichkeit), daß Du in der Klammer S.\,VI\,f. einfach meine Mitteilung dem Inhalt nach wiedergibst, sodaß mir auch die Verantwortung dafür zufällt. Das Einfachste wäre vielleicht, den zweiten Satz in der Klammer ganz fortzulassen, und im ersten Satz zum Zwecke d[e]r schärferen Betonung vor ,,wählbar`` die Worte ,,völlig frei`` einzuschieben. Ich glaube, das würde eigentlich genügen. Die Korrektur meines letzten Aufsatzes\IW{} habe ich längst zurückgesandt, und ich kann daher nichts mehr ändern, um mich mit Neuraths\IN{\neurath} Standpunkt besser auseinanderzusetzen. Ich habe nie daran gezweifelt, daß er es ablehnen würde, als Anhänger der üblichen Kohärenztheorie zu gelten; aber ich wollte auch nur behaupten, daß aus seinen Äußerungen, wenn man sie ernst nimmt, die Kohärenztheorie folge. Ich nahm an, daß ihm das selbst nicht klar sei, weil seine Gedanken zu undeutlich sind; sonst hätte er wohl kaum Reininger\IN{\reininger} zustimmend zitieren können. Ich habe ja angedeutet, daß die ganze Diskussion mir abwegig und wenig interessant erscheint; nur scheint es mir verfehlt, einfach alle Sätze als Hypothesen anzusehen; dies \neueseite{} halte ich allein für wichtig, und darauf allein liegt der Ton in meinem Aufsatz\IW{}. Was den Aufsatz\IW{} von Lewis\IN{\lewis} betrifft, so werde ich darauf bestimmt erwidern; aber vielleicht dauert es noch ein kleines Weilchen, bis ich dazu komme. Ich dachte ihm einen Brief zu schreiben und ein kleines MS\IW{} beizulegen, das er dann an die Philosophical Review\II{} weitergeben kann. Zu gleicher Zeit werde ich Dir eine Abschrift senden. Von Morris\IN{\morris} habe ich kein MS\IW{} erhalten; er wollte ja nach Wien kommen, ich weiß aber nicht, wie weit seine Pläne gediehen sind. Meine Gesundheit läßt augenblicklich wieder etwas zu wünschen übrig. Ich habe viel Kopfschmerzen und merkwürdigerweise auch Gliederreißen. Ich brauche wieder eine kleine Verjüngung und hoffe sehr auf die Sommerferien und auf ein Ausruhen von diesem bewegten Semester. Soviel für heute. Mit herzlichen Grüßen, auch für Deine Frau\IN{\ina},} \grussformel{Dein\\ M. Schlick} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870749}{RC 029-28-10 (Dsl. MS 95/Carn-51)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Moritz Schlick \,/\, Wien IV. \,/\, Prinz-Eugen-Str. 68}, msl. \original{5.\,Juni 1934}.}