\brief{Rudolf Carnap an Artur Erdelyi, 8. Mai 1934}{Mai 1934} %Prag, den 8.Nai [sic] 1934. \anrede{Sehr geehrter Herr \textit{Erd\'{e}lyi},} \haupttext{Ich habe mich gefreut, aus Ihrem Brief zu ersehen, mit welch lebhaftem Interesse Sie unsre Bestrebungen verfolgen und sich mit den Auffassungen des Wiener Kreises\II{\schlickzirkel} auseinandersetzen. Doch scheinen mir hier Mißverständnisse vorzuliegen in bezug auf unsre Einstellung zum ,,Irrationalen``. Der Ausdruck ,,das Irrationale`` ist zweideutig; man muß immer klar sagen, ob von menschlichen Tätigkeiten oder von Objekten der Tätigkeiten oder Betrachtung die Rede ist. Die menschl[ichen] Tätigkeiten kann man (in einem gewissen Sinn, ohne scharfe Grenze) einteilen in rationale, d.\,h. überwiegend vom Verstand geleitete, z.\,B. Wissenschaft, und irrationale, z.\,B. Erotik, Kunst usw. Diese Unterscheidung ist psychologisch wichtig; aber in den Problemen des Wiener Kreises\II{\schlickzirkel} spielt sie keine große Rolle. Vor allem haben wir nicht im geringsten ein Werturteil zugunsten der rat[ionalen] Tätigkeiten ausgesprochen. (Man könnte vielleicht eher umgekehrt sagen, daß die Irrat[ionalitäten] im Leben mehr Einfluß haben; doch möchte ich auf diese Frage nicht eingehen, da ja die Unterscheidung und damit auch diese Frage sehr unscharf ist). Etwas ganz anderes ist es mit der Frage, welche Gegenstände Objekt der wiss[enschaftlichen] Betrachtung sein können. Und da sind wir der Meinung, daß ausnahmslos Alles wiss[enschaftlich] betrachtet werden kann, also auch die irrat[ionalen] Tätigkeiten. Wissenschaft ist das System der (theoret[ischen]) Sätze; da man über alles sprechen kann, so kann auch alles Objekt der Wiss[enschaft] sein. Über die irrat[ionalen] Tätigkeiten, Gefühle, Triebe usw. spricht z.\,B. die Wissenschaft Psychologie. Wenn wir Metaphysik ablehnen, so nicht irgendwelche Gefühle, sondern \uline{nur} bestimmte Sprachäußerungen; nur diese nennen wir ,,Metaphysik``. Wir lehnen sie ab, weil sie keinen theoretischen Gehalt haben, nichts aussagen; sie haben aber die irreführende sprachliche Form von Aussagesätzen; darum nennen wir sie Scheinsätze. Die den metaph[ysischen] Äußerungen zugrundeliegenden Gefühle mag man haben oder nicht; man mag sie hoch oder niedrig schätzen; das ist eine praktische Frage, die vom Standpunkt der Logik aus nicht zu entscheiden ist. Unsre antimetaphysische These ist eine \uline{logische} These; logische Thesen beziehen sich auf den log[ischen] Charakter von Sprachgebilden, z.\,B. Sätzen oder Scheinsätzen. Unsre antimetaph[ysische] These kann man also etwa so formulieren: es gibt keine andre Erkenntnis als die wissenschaftliche; es gibt keine andern gehaltvollen Sätze als die wissenschaftlichen. (Dagegen \uline{nicht}: alle Entscheidungen sollen von der Wissenschaft getroffen werden. Im Gegenteil: die Wiss[enschaft] kann nur theoret[ische] Fragen behandeln. Die Entscheidung in prakt[ischen] Fragen ist nicht eine Erkenntnis, sondern ein Entschluß; ein solcher kann durch theoret[ische] Erkenntnis höchstens vorbereitet werden.) Vielleicht kann auch die Broschüre ,,Wiss[enschaftliche] Weltauffassung``\IW{\wissweltauffassung}, die ich Herrn Prof. Bock\IN{\bockprof} geschickt habe, Ihnen helfen, ein klares Bild von unsrer Auffassung zu bekommen.} \grussformel{Mit vorzüglicher Hochachtung\\{} [Rudolf Carnap]} \ebericht{Brief, msl. Dsl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/869959}{RC 028-17-01}; Briefkopf: msl. \original{Prag, den 8.\:,Mai 1934}.}