valep\(\mathsf{\TeX}\): conversion from \(\mathsf{\LaTeX}\) to HTML |
Sehr geehrter Herr Erdélyi‚
Ich habe mich gefreut, aus Ihrem Brief zu ersehen, mit welch lebhaftem Interesse Sie unsre Bestrebungen verfolgen und sich mit den Auffassungen des Wiener Kreises
Etwas ganz anderes ist es mit der Frage, welche Gegenstände Objekt der wiss[enschaftlichen] Betrachtung sein können. Und da sind wir der Meinung, daß ausnahmslos Alles wiss[enschaftlich] betrachtet werden kann, also auch die irrat[ionalen] Tätigkeiten. Wissenschaft ist das System der (theoret[ischen]) Sätze; da man über alles sprechen kann, so kann auch alles Objekt der Wiss[enschaft] sein. Über die irrat[ionalen] Tätigkeiten, Gefühle, Triebe usw. spricht z. B. die Wissenschaft Psychologie.
Wenn wir Metaphysik ablehnen, so nicht irgendwelche Gefühle, sondern nur bestimmte Sprachäußerungen; nur diese nennen wir „Metaphysik“. Wir lehnen sie ab, weil sie keinen theoretischen Gehalt haben, nichts aussagen; sie haben aber die irreführende sprachliche Form von Aussagesätzen; darum nennen wir sie Scheinsätze. Die den metaph[ysischen] Äußerungen zugrundeliegenden Gefühle mag man haben oder nicht; man mag sie hoch oder niedrig schätzen; das ist eine praktische Frage, die vom Standpunkt der Logik aus nicht zu entscheiden ist. Unsre antimetaphysische These ist eine logische These; logische Thesen beziehen sich auf den log[ischen] Charakter von Sprachgebilden, z. B. Sätzen oder Scheinsätzen.
Unsre antimetaph[ysische] These kann man also etwa so formulieren: es gibt keine andre Erkenntnis als die wissenschaftliche; es gibt keine andern gehaltvollen Sätze als die wissenschaftlichen. (Dagegen nicht: alle Entscheidungen sollen von der Wissenschaft getroffen werden. Im Gegenteil: die Wiss[enschaft] kann nur theoret[ische] Fragen behandeln. Die Entscheidung in prakt[ischen] Fragen ist nicht eine Erkenntnis, sondern ein Entschluß; ein solcher kann durch theoret[ische] Erkenntnis höchstens vorbereitet werden.)
Vielleicht kann auch die Broschüre „Wiss[enschaftliche] Weltauffassung“
Mit vorzüglicher Hochachtung
[Rudolf Carnap]
Brief, msl. Dsl., 1 Seite, RC 028-17-01; Briefkopf: msl. Prag, den 8.\:‚Mai 1934.