Vielen Dank für Ihren Brief und das ManuskriptB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934. Es tut mir sehr leid zu hören, daß aus der Stipendiensache nichts geworden ist. Was den Aufenthalt in Amerika betrifft, so wäre er ja als solcher sicher sehr interessant für Sie, aber ich glaube eigentlich nicht, daß Sie gerade besonderen wissenschaftlichen Nutzen aus ihm ziehen würden und ich meine, daß vielmehr die amerikanischen Philosophen es bedauern können, wenn Sie jetzt nicht hingehen. Ich selbst habe zu diesen letzteren leider gar keine Beziehung, LewisPLewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. Philosoph kenne ich überhaupt nicht und ShefferPSheffer, Henry Maurice, 1882–1964, am. Philosoph hat keinerlei Einfluß. Ich bin aber ziemlich überzeugt, daß der Moment kommen wird und zwar vermutlich in nicht allzu ferner Zukunft, wo eines schönen Tages irgendeine Hochschule ganz spontan an Sie herantreten wird, so wie das vor zwei Jahren bei mir der Fall war und in diesem Falle werden ja auch die Bedingungen, unter denen Sie die Reise unternehmen, in jeder Hinsicht günstiger sein als wenn die Initiative von Europa ausgeht.
Ihr ManuskriptB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 hat mich, soweit ich zu seiner Lektüre gekommen bin, natürlich außerordentlich interessiert. So genau, daß ich Ihnen nähere Bemerkungen machen könnte, habe ich es vorläufig leider nicht lesen können, da ich seit mehreren Monaten durch die Abfassung eines BuchesBMenger, Karl!1934@Moral, Wille und Weltgestaltung. Grundlegung zur Logik der Sitten, Wien, 1934 völlig absorbiert war. Eine mir allerdings selbst bei flüchtiger Lektüre auffallende und geradezu unverständliche Tatsache ist Ihre Stellungnahme zum BucheB von KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph, verh. mit Else Kaufmann, das Sie ja geradezu in Parallele zu den intuitionistischen Werken setzen, während sein Inhalt einem den mathematischen Gehalt der Grundlagenarbeiten durchschauenden Mathematiker doch bestenfalls als eine ziemlich verworrene Darstellung der von Ihnen gar nicht recht erwähnten (selbst schon unklaren) Ideen BorelsPBorel, Émile, 1871-1956, fr. Mathematiker ist.
Eine mir persönlich allerdings wichtigere Bemerkung bezieht sich auf Ihre Einstellung zum Intuitionismus & auf Ihr Toleranzprinzip der Syntax. In diesem ausgezeichneten Paragraphen erblicke ich einen der Hauptpunkte Ihres BuchesB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934, soweit ich das ManuskriptB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 desselben kenne und freue mich außerordentlich über die 🕮 klare und schöne Fassung dieses Paragraphen. Nicht ganz einverstanden bin ich allerdings, offen gesagt, mit der ihn beschließenden Literaturangabe. Sie sagen dort, die dort gemeinte Einstellung dürfte den meisten Mathematikern naheliegen, ohne daß man sie ausdrücklich auszusprechen pflegt. Was mich betrifft, so gebe ich allerdings zu, daß meine explizite Formulierung dieser Einstellung mich durchaus keine große Anstrengung gekostet hat. Wie Sie aber allgemein eine Einstellung als „naheliegend“ bezeichnen können, der alle wichtigsten über Grundlagenfragen erschienenen Arbeiten (und speziell auch der Mathematiker!) diametral entgegengesetzt sind, eine Auffassung, der HilbertsPHilbert, David, 1862–1943, dt. Mathematiker erkenntnistheoretische Grundabsicht ebenso wie die gesamte Einstellung aller Intuitionisten widerspricht, das ist mir vollkommen rätselhaft. Es ist richtig, daß meine nachdrücklichst ausgesprochene Ansicht von Philosophen nicht beachtet wurde, aber ich weiß nicht, ob gerade Sie, der Sie doch diese Auffassung nun sich zu eigen gemacht haben, sie so ganz bagatellisieren sollten. Ich persönlich bin von der Wichtigkeit des Toleranzprinzips der Syntax, das ich hinsichtlich der Mathematik als mein geistiges Eigentum betrachte, ebenso überzeugt wie von seinem allen bisherigen Untersuchungen auf diesem Gebiete widersprechenden Charakter. Daß es übrigens auch Ihren früheren Äußerungen nicht konform ist, habe ich ja schon in meinem letzten Briefe erwähnt.
Nun noch zur Zitierung von Herrn GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker gelegentlich dieses Prinzips. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu schreiben, wie sehr ich Herrn GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker schätze, denn ich habe dies in genügend vielen Publikationen und auch durch tatkräftige Förderung zum Ausdruck gebracht. (Lesen Sie z. B. meinen Vortrag über die neue LogikBMenger, Karl!1933@„Die neue Logik“, Krise und Neuaufbau in den exakten Wissenschaften. Fünf Wiener Vorträge, Leipzig, 1933, 93-122!). Was aber dieses Toleranzprinzip betrifft, so habe ich die ihm zugrunde liegende Auffassung in meinen Veröffentlichungen zu einer Zeit vertreten, wo Herr GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker kaum auch nur mündliche Äußerungen darüber gemacht haben dürfte. Mir gegenüber jedenfalls hat er viel später erst gesagt, daß er sich in diesem Punkt durchaus der in meinen Publikationen vertretenen Anschauung anschließt. Zusammenfassend möchte ich Ihnen also den Vorschlag machen, den Ihr erstes Kapitel anschließenden Literaturhinweis doch in einer den Tatsachen gerechter werdenden und daher auch Ihrem Buche selbst vorteilhafteren Weise abzuändern. Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, so wäre es der, daß Sie sagen, daß die hier gemeinte Einstellung, welche sowohl derjenigen aller formalistischen als auch derjenigen aller intuitionistischen Publikationen völlig entgegengesetzt ist, bisher ausschließlich und übrigens mit größtem Nachdrucke in🕮meinen Publikationen („Intuitionismus“BMenger, Karl!Vortrag von? „Der Intuitionismus“, in: Blätter für Deutsche Philosophie 4, 311-325, „Bemerkungen zu Grundlagenfragen“B& „Die neue Logik“BMenger, Karl!1933@„Die neue Logik“, Krise und Neuaufbau in den exakten Wissenschaften. Fünf Wiener Vorträge, Leipzig, 1933, 93-122) vertreten worden ist, welcher Auffassung, wie Sie aus mündlichen Äußerungen wissen, auch Herr Gödel sich angeschlossen hat. Entsprechendes gilt für den § über den Intuitionismus.
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie wenig ich die von Ihnen bekämpften Philosophen schätze und wie gleichgültig mir daher alles ist, was sie über mich schreiben oder nicht schreiben. Wenn dies hinsichtlich Ihres WerkesB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 so ganz anders ist, so bitte ich Sie darin nur ein Zeichen meiner besonderen Wertschätzung für Sie zu erblicken und hoffe, daß Sie mir eben aus diesem Grunde meine Bemerkungen nicht übel nehmen werden. Gerade im gegenwärtigen Moment aber freut es mich besonders, daß Sie sich der von mir in mathematischen Grundlagenfragen vertretenen Ansicht angeschlossen haben, da ich, wie ich Ihnen gestehen muß, selbst halb und halb unter die Philosophen gegangen bin. Die Arbeit nämlich, die mich in den letzten Monaten so intensiv beschäftigt hat, war nichts Anderes als die Abfassung eines philosophischen BuchesBMenger, Karl!1934@Moral, Wille und Weltgestaltung. Grundlegung zur Logik der Sitten, Wien, 1934? nicht über math[ematische] Grundlagen!) und ich würde mich außerordentlich freuen, wenn dasselbe Ihren Beifall finden wird.
Mit herzlichsten Grüßen