\brief[Neurath an Carnap, Prag, 8.~März 1934]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 8. März 1934}{März 1934}\labelcn{1934-03-08-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Wie das meine Art ist, habe ich Dein Buch\IC{\logischesyntax} zunächst mal durchflogen,\fnE{Genaugenommen handelt es sich dabei erst um die (nicht erhaltenen) Druckfahnen von Carnap, \emph{Logische Syntax der Sprache}.} um Aufbau und Gedankengang zu erfassen und um zu sehen, ob die Liebenden sich kriegen. Wie immer sehe ich auch diesmal bewundernd, wie sich alles zu einem geschlossenen Ganzen fügt, \ldots\ über einzelnes möchte ich mit Dir und Frank\IN{\frankphilipp} mal ausführlich sprechen. Etwas Menschliches. Ich muß mir jetzt eine neue Position in der Welt schaffen\fnEE{Nach den Februarkämpfen konnte der gerade in Moskau befindliche Neurath nicht mehr nach Wien zurückkehren und organisierte von der Tschechoslowakei aus die Übersiedlung nach Den Haag; zur Emigration und der ersten Zeit in den Niederlanden vgl. Sandner, \textit{Otto Neurath}, 233--235, Mertens, \textit{An Idealist in The Hague}, 21--26, sowie Marie Neurath, ,,An was ich mich erinnere`` (\href{https://doi.org/10.48666/990997}{ON~370/L15}), 52--55. Als Folge dieser Ereignisse wurde auch der \textit{Verein Ernst Mach}\II{\machverein} behördlicherseits aufgelöst; siehe dazu Stadler, \textit{Vom Positivismus zur ,,Wissenschaftlichen Weltauffassung`}`, Teil 2, Kap. 3.6.} und habe ein positives Interesse daran, daß meine persönliche Leistung in Deinem Buch\IC{\logischesyntax} etwas präziser fixiert würde. Daß Du mich so eingehend wie Frege\IN{\frege} oder Wittgenstein\IN{\wittgenstein} behandelst, kommt nicht in Frage, aber jetzt wird nur erwähnt, daß ich gegen Wittgenstein\IN{\wittgenstein} und den Terminus Philosophie polemisiere, sonst aber heißt es bei den Thesen des Physikalismus und der Einheitswiss\ekl{enschaft} bloß vergl\ekl{eiche} Neurath\inneurath{}, woraus niemand entnehmen kann, daß ich erstmalig und recht radikal an der Schaffung dieses Gedankenkomplexes beteiligt war. Wenn Du mir einen Bruchteil des Raumes widmest, den Wittg\ekl{enstein}\IN{\wittgenstein} bekommt, ists genug. Sowohl in der Empir\ekl{ischen} Soziologie\IW{\neurathneuesbuch} als auch in dem Scientiaartikel\IW{\neurathscientia} 1931\fnE{Neurath, ,,Physikalismus``.} stehen, wie ich vor kurzem selbst mit Verwunderung feststellte, einige Sachen recht früh, wenn auch noch unvollkommen. Vielleicht wirfst Du einen Blick in den Artikel. Daß die Sprache über sich selbst sprechen kann, daß Analyse der Sätze die Gegenüberstellung ,,Welt`` und ,,Sätze`` verdrängt usw. Du hast ja die Hauptpunkte in der Erkenntnis\II{\erkenntnis} zweimal hervorgehoben\IC{\physikalischesprache}\IC{\protokollsaetze}.\fnSE{Carnap, ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft``, 453, Anm.; ,,Über Protokollsätze``, 228.}\fnE{Für Carnaps Anerkennung von Neuraths Priorität bei bestimmten Thesen vgl. Carnap, ,,Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft``, S.\,453, Anm. (zu dieser Passage siehe auch oben, Briefe Nr.~\refcn{1932-01-25-Neurath-an-Carnap}--\refcn{1932-03-02-Carnap-an-Neurath}), sowie ,,Über Protokollsätze``, insbesondere S.\,228.} Auch glaube ich, daß ein Wort über die Protokollsatzformulierung am Platz wäre, falls Du mir nützlich sein willst. Eine sehr \gesperrt{frühe}, wenn auch noch unbeholfene Einsicht hat einen Anspruch auf Anerkennung in der Welt. Ich möchte, wenn ich weiter über die Sache schreibe, als mein eigener Fortsetzer und nicht als Abweichung Deiner Darstellung erscheinen.\fnE{Diesem Wunsch Neuraths (vgl. auch TB~13.\,3.\,1934\diaryref{TB-13-3-1934}) entsprechend schob Carnap eine Passage in §~82 der \textit{Logischen Syntax} ein; vgl. unten, Brief Nr.~\refcn{1934-04-13-Carnap-an-Neurath}, Anm.~\refcn{1934-04-13-Carnap-an-Neurath-Einschub}.} \neueseite Ich bin überzeugt, daß Du einsiehst, wie wichtig es für mich in diesem Moment ist, als selbständiger Denker adäquat bekannt zu sein, Du wirst daher wohl so lieb sein und ein paar Zusätze machen, nicht nur, wo vom Physikalismus die Rede ist, sondern auch dort, wo Logisches in Frage kommt, sofern Du eben in meinem Scientiaartikel\IW{\neurathscientia} hiefür eine Unterlage findest. Es wäre doch schade, wenn das \textkritik{ein anderer}\fnA{Hsl. Korrektur von \original{andere}.} als gerade jemand aus dem Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} tun müßte, oder wenn ich, was mir doch noch peinlicher\fnA{Hsl. Korrektur von \original{peinlich} (nur in Dsl.).} ist, selbst als der Herold meiner Taten auftreten müßte.\fnSE{Diesem auch mündlich recht vehement vorgebrachten Wunsch Neuraths (vgl. TB~13.\,3.\,1934\diaryref{TB-13-3-1934}) entsprechend schob Carnap eine Passage in §~82 der \textit{Logischen Syntax} ein.} Sei nicht böse, daß ich Dich in Deiner Korrekturtätigkeit störe. Über einzelnes demnächst mit guten Grüßen an Ina\IN{\ina}} \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808399}{RC 029-10-91 (Dsl. ON 219)}; Briefkopf: msl. \original{Prag 8.\,III.\,1934}, ksl. \original{nach Prag}.}