Neurath an Carnap, Prag, 8. März 1934 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 8. März 1934 März 1934

Lieber Carnap!

Wie das meine Art ist, habe ich Dein BuchB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 zunächst mal durchflogen‚1Genaugenommen handelt es sich dabei erst um die (nicht erhaltenen) Druckfahnen von Carnap, Logische Syntax der Sprache. um Aufbau und Gedankengang zu erfassen und um zu sehen, ob die Liebenden sich kriegen. Wie immer sehe ich auch diesmal bewundernd, wie sich alles zu einem geschlossenen Ganzen fügt, …über einzelnes möchte ich mit Dir und FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank mal ausführlich sprechen.

Etwas Menschliches. Ich muß mir jetzt eine neue Position in der Welt schaffen und habe ein positives Interesse daran, daß meine persönliche Leistung in Deinem BuchB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 etwas präziser fixiert würde. Daß Du mich so eingehend wie FregePFrege, Gottlob, 1848–1925, dt. Mathematiker und Philosoph oder WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph behandelst, kommt nicht in Frage, aber jetzt wird nur erwähnt, daß ich gegen WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph und den Terminus Philosophie polemisiere, sonst aber heißt es bei den Thesen des Physikalismus und der Einheitswissenschaft bloß vergleiche Neurath, woraus niemand entnehmen kann, daß ich erstmalig und recht radikal an der Schaffung dieses Gedankenkomplexes beteiligt war.

Wenn Du mir einen Bruchteil des Raumes widmest, den WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph bekommt, ists genug. Sowohl in der Empirischen SoziologieBNeurath, Otto!1931@Empirische Soziologie. Der wissenschaftliche Gehalt der Geschichte und Nationalökonomie, Wien, 1931 als auch in dem ScientiaartikelBNeurath, Otto!„Physikalismus“ in Scientia 19312Neurath, „Physikalismus“. stehen, wie ich vor kurzem selbst mit Verwunderung feststellte, einige Sachen recht früh, wenn auch noch unvollkommen. Vielleicht wirfst Du einen Blick in den Artikel. Daß die Sprache über sich selbst sprechen kann, daß Analyse der Sätze die Gegenüberstellung „Welt“ und „Sätze“ verdrängt usw. Du hast ja die Hauptpunkte in der ErkenntnisIErkenntnis, Zeitschrift zweimal hervorgehobenB1931@„Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft“, Erkenntnis 2, 1931, 423–465B1932@„Über Protokollsätze“, Erkenntnis 3, 1932/33, 215–228.1Carnap, „Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft“, 453, Anm.; „Über Protokollsätze“, 228.3Für Carnaps Anerkennung von Neuraths Priorität bei bestimmten Thesen vgl. Carnap, „Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft“, S. 453, Anm. (zu dieser Passage siehe auch oben, Briefe Nr. ), sowie „Über Protokollsätze“, insbesondere S. 228. Auch glaube ich, daß ein Wort über die Protokollsatzformulierung am Platz wäre, falls Du mir nützlich sein willst. Eine sehr frühe, wenn auch noch unbeholfene Einsicht hat einen Anspruch auf Anerkennung in der Welt. Ich möchte, wenn ich weiter über die Sache schreibe, als mein eigener Fortsetzer und nicht als Abweichung Deiner Darstellung erscheinen.4Diesem Wunsch Neuraths (vgl. auch TB 13. 3. 1934) entsprechend schob Carnap eine Passage in § 82 der Logischen Syntax ein; vgl. unten, Brief Nr. , Anm. .🕮

Ich bin überzeugt, daß Du einsiehst, wie wichtig es für mich in diesem Moment ist, als selbständiger Denker adäquat bekannt zu sein, Du wirst daher wohl so lieb sein und ein paar Zusätze machen, nicht nur, wo vom Physikalismus die Rede ist, sondern auch dort, wo Logisches in Frage kommt, sofern Du eben in meinem ScientiaartikelBNeurath, Otto!„Physikalismus“ in Scientia hiefür eine Unterlage findest. Es wäre doch schade, wenn das ein andereraHsl. Korrektur von andere. als gerade jemand aus dem Wiener KreisISchlick-Zirkel, Wiener Kreis tun müßte, oder wenn ich, was mir doch noch peinlicherbHsl. Korrektur von peinlich (nur in Dsl.). ist, selbst als der Herold meiner Taten auftreten müßte.2Diesem auch mündlich recht vehement vorgebrachten Wunsch Neuraths (vgl. TB 13. 3. 1934) entsprechend schob Carnap eine Passage in § 82 der Logischen Syntax ein.

Sei nicht böse, daß ich Dich in Deiner Korrekturtätigkeit störe. Über einzelnes demnächst

mit guten Grüßen an InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap

Dein
ON

Brief, msl., 2 Seiten, RC 029-10-91 (Dsl. ON 219); Briefkopf: msl. Prag 8. III. 1934, ksl. nach Prag.


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