Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 5. Jänner 1934 Jänner 1934

Lieber Carnap‚

endlich komme ich dazu, Ihnen zu schreiben, nachdem ich jetzt endlich wieder in einer eigenen Wohnung sitze und etwas zur Ruhe komme. Es war im Anfang etwas verwirrend, die Fülle der Eindrücke ist sehr groß, die ganze Umgebung neu und ungewohnt, und dabei auch ziemlich viel mit der UniversitätIUniversität Istanbul zu tun. Inzwischen habe ich mich an das Vortragen mit Dolmetscher gewöhnt, zwischendurch spreche ich Französisch und Englisch – man merkt dabei in erfreulich deutlicher Weise, daß die Sprache eine rein konventionelle Angelegenheit ist und man dieselbe Sache auf ganz verschiedene Weise ausdrücken kann! Leider sind meine Hörer hier Leute, die mathematisch ganz ungeschult sind, und so muß ich mich in meiner Vorlesung auf ein literarisches Publikum einstellen. Es wird lange dauern, bis ich hier ein paar Schüler gefunden habe, wie ich sie in Berlin hatte. Aber an solche Sachen denkt man jetzt nicht und ist froh, überhaupt untergekommen zu sein. Übrigens habe ich eine sehr schöne Wohnung gefunden, direkt am Marmarameer, auf der asiatischen Seite. Morgens fahre ich mit dem Dampfer in 20 Minuten über den Bosporus nach Stambul.

Zunächst zur Ihren Briefen. Den Brief von HosteletPHostelet, Georges, 1875-1960, fr. Soziologe lege ich Ihnen wieder bei. Seine BücherB brauche ich nicht; es wäre ja ganz nett, wenn uns der Mann mal was für die Erk[enntnis]IErkenntnis, Zeitschrift schickte. Wegen der Druckfehler in den LangeP-Briefen schreibe ich an DohrnP (den Sohn, in Neapel). – MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger hat Sorgen wegen der verminderten Abonnentenzahl der Erk[enntnis]IErkenntnis, Zeitschrift und möchte das Autorenhonorar streichen. Ich habe ihm geschrieben, daß ich einverstanden wäre, wenn er es im allgemeinen streicht, nur für besondere Fälle möchte ich ein Autorenhonorar lassen; ich denke da an jüngere Autoren in schlechten Verhältnissen. Ich habe ihm auch eine Herabsetzung meines Herausgeberhonorars auf die Hälfte angeboten. Er wird Ihnen noch schreiben und um Ihre Zustimmung zu der Regelung des Autorenhonorars 🕮 bitten. Ich denke, ein Geschäft kann er ja heute gewiß nicht machen mit der Zs.IErkenntnis, Zeitschrift, und da soll man ihm entgegenkommen. Er ist übrigens wirklich sehr anständig unter den heutigen Verhältnissen und zeigt großen Mut in seinem Widerstand gegen „Gleichschaltung“. Nur deshalb können wir ja auch die Zs.IErkenntnis, Zeitschrift bei ihm weiter machen. Ich will jedenfalls innerlich keine Konzessionen in der Zs.IErkenntnis, Zeitschrift zulassen, lieber aufhören als gleichschalten lassen. Aber wie gesagt, bis jetzt können wir es noch gut mit MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger machen.

Es ist sehr nett, daß Sie mir wegen eines Verlags Vorschläge machen. Ich glaube aber, mit Springer WienISpringer Verlag hat es keinen Zweck. Denn praktisch ist der doch ganz unter dem Einfluß von Ferd. SpringerPSpringer, Ferdinand junior, 1881-1965, dt. Verleger. Auch kommt mein BuchBReichenbach, Hans!1935@Wahrscheinlichkeitslehre. Eine Untersuchung über die logischen und mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leiden, 1935 für die Schlicksche SammlungI Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung, Buchreihe wegen der Länge nicht in Frage, es ist noch etwas größer als meine Raum-Zeit-LehreBReichenbach, Hans!1928@Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Berlin, 1928, über 500 Seiten. Sie schlagen dann noch DeutisckeI vor. Aber hier ist nun leider das Unglück, daß bei dem die MiseschePMises, Richard von, 1883–1953, öst.-am. Mathematiker WahrscheinlichkeitsrechnungB erschienen ist; der würde also meinen hiesigen Kollegen MisesPMises, Richard von, 1883–1953, öst.-am. Mathematiker um Rat fragen, und von dem eine negative Auskunft erhalten. So weiß ich also nicht recht, was tun. An MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger habe ich mich noch nicht gewandt mit der Frage. Das BuchBReichenbach, Hans!1935@Wahrscheinlichkeitslehre. Eine Untersuchung über die logischen und mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leiden, 1935 ist vielleicht etwas zu mathematisch für seinen VerlagIVerlag Meiner, da es zugleich eine Einführung in die mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung ist. Aber ich habe auch Bedenken, unter den heutigen Umständen in einem deutschen Verlag noch ein Buch herauszubringen. Wissen Sie in Wien noch einen dritten Verlag?

Sehr erfreulich ist es, daß Ihre „Logische Syntax“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 jetzt erscheint. In welchem Verlag kommt die heraus?

HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel hat ja nun Sorgen wegen seines Doktorats. Ich habe ihm geschrieben, daß er doch zur Not auch leicht zu Ihnen fahren kann mit seiner Arbeit! Bis zu mir wäre es ja ein bißchen weit.

Inzwischen beste Grüße

Ihr
[Hans Reichenbach]

Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, HR 013-41-29; Briefkopf: msl. 5. 1. 34  /  Istanbul-Kadiköy  /  Mühürdarcaddesi  /  Nazli Hanim App..


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