\brief[Carnap an Neurath, Prag, 23.~Dezember 1933]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 23. Dezember 1933}{Dezember 1933}\labelcn{Carnap-an-Neurath-1933-12-23} \anrede{Lieber Neurath!} \haupttext{Wir hoffen sehr, Dich nach dem 9. Jan. hier zu sehen! Frank\IN{\frankphilipp} wird jetzt in Wien sein, verabrede mit ihm! Soeben schreibt mir Urania-Bratislava\II{\uraniapressburg}: sie können sich nicht nach Brünn richten, wünschen auf jeden Fall 4.~April. Falls Brünner Vortrag nicht zeitlich nahe, wollen sie 700 Kč zahlen. Ich sage jetzt zu. Sie wünschen doch das alte Thema ,,Von Gott und Seele``\IC{\gottundseelezwei}.\fnE{Zu diesem Vortragsthema siehe oben, Brief Nr.~\refcn{1931-08-17-Neurath-an-Carnap}, zum Vortrag TB~4.\,4.\,1934\diaryref{TB-4-4-1934}.} Du fragst nach einem Vortrag im Machverein\II{\machverein} für 6.~April. Das Datum paßt mir gut. Ich möchte am liebsten darüber sprechen, daß Wissenschaftslogik Syntax ist (also Thema vielleicht ,,Über Wissenschaftslogik``, ,,Über die Probleme der Wissenschaftslogik``, ,,Wissenschaftslogik und Syntax``, ,,Wissenschaft und Syntax``, ,,Was ist Wissenschaftslogik`` oder ähnlich). Bitte, wenn möglich, Honorar so, daß es mir einige Tage Aufenthalt in Wien finanziert; also mindestens 20 S (möglichst aber mehr), dazu 20 Ex\ekl{emplare} ,,Wissensch\ekl{aftliche} Weltauffassung``\IW{\wissweltauffassung}. Lieber wäre es mir, wenn ich nicht ganz populär sprechen müßte, sondern etwas wissenschaftlicher, vor geladenem Kreis (wie Fraenkel\fnA{\original{Fränkel}}\IN{\fraenkelabraham} und Behmann\IN{\behmann}).\fnEE{Carnap bezieht sich hier auf Wiener Vorträge von Fraenkel (,,Grundlagen der Mathematik``, vgl. TB~29.\,9.\,1929\diaryref{TB-29-9-1929}) bzw. Behmann (,,Widersprüche in Mathematik und Logik``, vgl. TB~16.\,9.\,1930\diaryref{TB-16-9-1930}).} Leider habe ich versäumt, mir von \uline{Frank}\IN{\frankphilipp} seine Wiener Adresse geben zu lassen. Bitte schicke oder gib ihm \uline{beiliegendes Blatt} oder lies es ihm telefonisch vor. Falls aus dem geplanten Vortragszyklus in \uline{Brünn} etwas wird, wäre es vielleicht besser, anstatt des früher geplanten Themas ,,Die Philosophie -- Opium für die Gebildeten`` das Thema ,,Die Philosophie als Feind der Wissenschaft`` zu nehmen.\fnE{Vgl. dazu oben, Brief Nr.~\refcn{1933-12-14-Neurath-an-Carnap}.} In Brünn habe ich vor einem Jahr den Vortrag ,,Überwindung der Metaphysik``\IC{\ueberwindungbruenn} gehalten;\fnEE{Zu diesem Vortrag vgl. TB~10.\,12.\,1932\diaryref{TB-10-12-1932}.} und das erste Thema ist dem vielleicht zu nah. Zu Deinen Andeutungen über \uline{meine Entwicklung}. Im ganzen richtig. Meine ,,Syntax``\IC{\logischesyntax} hat historisch zwei Wurzeln: 1. Wittgenstein\IN{\wittgenstein}, 2. Metamathematik (Tarski\IN{\tarski}, Gödel\IN{\goedel}). Ob weniger Architektur? Da müssen wir sehen, was Du zu meinem Buch\IC{\logischesyntax} sagen wirst. Vielleicht in gewissem Sinn ja: weniger dogmatisch (,,Toleranzprinzip der Syntax``). -- Entwicklung des Zirkels\II{\schlickzirkel}. Darüber möchte ich sehr gern mal mit Dir sprechen, der Du ja mehr historischen Blick hast als ich. Ich sehe hauptsächlich drei Phasen: \uline{1.} 1925--30, im Mittelpunkt: Wittgensteins\IN{\wittgenstein} Tractatus\IW{\tractatus}, nebenbei: mein Aufbau\IC{\konstitutionstheorie}. Auffassung, die alles sehr vereinfacht; Gefahr des Dogmatismus. Ablehnung der Metaphysik durch ein zu stark vereinfachtes Schema. Alle Schwierigkeiten scheinen gelöst. Der Drache ist getötet, jetzt braucht nur noch ein wenig durch Erläuterungen geklärt\fnA{Hsl. Korrektur von \original{erklärt}.} zu werden. \uline{2.} Die neue Phase kommt aus zwei Neuerwerbungen: 2a. (Hauptsächlich seit 1929?) Physikalismus, Einheitswissenschaft; Brücken zwischen\fnA{Hsl. Einschub.} den \neueseite{}\zzz Fächern; die Aufmerksamkeit geht nicht nur auf Physik, sondern weiter: auf Psychologie und Soziologie. 2b. Syntax\IC{\logischesyntax} hauptsächlich seit 1931 (mein erster Entwurf: Jan. 1930; starker Einfluß durch Tarskis\IN{\tarski} Vorträge in Wien, Februar 1930, mißachtet von Schlick\IN{\schlick} und Waismann\IN{\waismann}).\fnEE{Zu Tarksis Aufenthalt in Wien im Februar 1930 vgl. die Einträge in TB zwischen 16.\,2. und 27.\,2.\,1930, sowie Carnap, ,,Intellectual Autobiography``, 30.} Allmählich wird uns immer klarer: alle unsere Probleme sind syntaktische Probleme. Dient zur Bekräftigung der These der Einheitswissenschaft. Nicht: alles ist gelöst, sondern eine Menge neuer Aufgaben, die in Angriff zu nehmen sind. Wir beide wünschen Euch gute Feiertage. Ina\IN{\ina} läßt fragen, ob Du sehr enttäuscht warst über ihre Notizen. Seit mein Buch\IC{\logischesyntax} abgeschickt ist, fühle ich mich in richtiger Ferienstimmung. Ich habe schon eifrig in den Basicbüchern gelesen. Ich hätte nie geglaubt, daß sich mit so einfachen Mitteln eine Teilsprache mit so reichen Möglichkeiten herausheben läßt. Von Logik hat Ogden\IN{\ogden} allerdings nicht viel Ahnungen. Sehr herzliche Grüße} \grussformel{Dein\\C.} \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/870312}{RC 029-03-06}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.\,/\,N. Motol, Pod Homolkou}, msl. \original{Prag, den 23.~Dez. 1933}.}