Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 29. Oktober 1933 Oktober 1933

Lieber Carnap‚

inzwischen bin ich nun in Istanbul angekommen. Es ist recht interessant hier, sehr uneuropäisch, man muß sich erst mal an allerhand Schmutz und Gestank gewöhnen. Aber dafür ist die Landschaft sehr versöhnend, ich wohne direkt am Meer, und das Wasser ist noch so warm, daß wir immer noch baden können.

Mit der Philosophie hier wird es nicht so einfach sein. Die Studenten sind hier alle „reine“ Philosophen, d. h. sie lernen in der Schule Philosophie, setzen das dann auf der Universität fort, und gehen dann wieder in die Schulen, um das Gelernte weiterzugeben. Von einzelwissenschaftlicher Arbeit haben sie keine Ahnung. Ich werde da noch allerhand Arbeit haben, bis ich mit den Leuten etwas machen kann. Erfreulich ist es, daß die leitenden Stellen hier sehr entgegenkommend sind, und mir immer wieder sagen, daß sie gerade mich geholt haben, um „philosophie scientifique“ einzuführen, und daß ich alle Vollmachten habe. Ich habe auch ein schönes Institut.

Haben Sie inzwischen meinen Brief aus Zürich erhalten?

Es ist schon ein großes Glück, daß man hier aus Deutschland heraus ist. Ich hätte es da nicht länger ausgehalten, auch wenn man mich nicht entlassen hätte. Aber man hat mir gegen Ende September vom MinisteriumI einen Brief geschrieben: Auf Grund des § 3 des Beamtengesetzes entziehe ich Ihnen die Lehrbefugnis an der Universität BerlinIUniversität Berlin. Das Gehalt hat man auch sofort gestoppt. Ich bin also recht froh, daß ich hier auf eine 🕮 so erfreuliche Weise untergekommen bin, auch pekuniär ist es sehr anständig hier. Ich habe es deshalb einem Angebot nach OxfordIUniversity of Oxford, Oxford UK vorgezogen, da die Oxforder Stelle nur auf ein Jahr gewesen wäre und schlecht bezahlt war. Hier habe ich einen Vertrag für 5 Jahre, der sich automatisch verlängert, wenn er nicht gekündigt wird. Übrigens bekomme ich auch den Umzug vergütet, und meine Möbel sind schon unterwegs nach hier. Meine Kinder sind auch schon hier, meine Frau, die noch eine Kur in Pistyan durchmacht, kommt dieser Tage nach.

Ich versuche natürlich, hier noch Möglichkeiten für deutsche Assistenten zu schaffen. Das ist nicht leicht, da die Leute hier dazu Türken nehmen wollen. Ich habe gleich 2 türkische Assistenten. Aber für das nächste Jahr hat man mir da Aussichten gemacht.

Übrigens eine Frage: gibt es in Prag einen wissenschaftlichen Verlag, der mathematische Bücher herausbringt? Ich suche jetzt einen Verleger für meine WahrscheinlichkeitBReichenbach, Hans!1935@Wahrscheinlichkeitslehre. Eine Untersuchung über die logischen und mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leiden, 1935. Die deutschen Verleger kommen nicht mehr in Frage, da sie das Risiko nicht kaufen können, einen entlassenen Professor als Autor zu haben. Auch wäre mir natürlich ein ausländischer Verleger lieber. An MeinerIVerlag Meiner will ich es nicht geben, da das BuchBReichenbach, Hans!1935@Wahrscheinlichkeitslehre. Eine Untersuchung über die logischen und mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leiden, 1935 zu mathematisch geworden ist, im übrigen gilt ja dort dasselbe, und es genügt gerade wenn er die Erkenntnis behält.

Inzwischen herzliche Grüße

Ihr
[Hans Reichenbach]

Brief, msl. Dsl., 2 Seiten, HR 013-41-23; Briefkopf: msl. Istanbul-Moda, d[en] 29. 10. 33  /  Moda-Palas-Oteli.


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