\brief{Karl Popper an Rudolf Carnap, 26. Juli 1933}{Juli 1933} \anrede{Sehr geehrter Herr Professor,} \haupttext{soeben erhalte ich ein Separatum von Gödels\IN{\goedel} Arbeit: ,,Über formal unentscheidbare Sätze usw.``\IW{\goedelmetamathematik} Ich danke Ihnen herzlichst, daß Sie mir diese Zusendung vermittelt haben. (Leider ist auf dem Kouvert kein Absender angegeben, sodaß ich nicht weiß, ob Sie oder Herr Gödel\IN{\goedel} mir die Arbeit\IW{\goedelmetamathematik} geschickt haben und mich auch bei Gödel\IN{\goedel}, dessen Adresse ich nicht kenne, nicht bedanken kann.) Darf ich Sie, sehr geehrter Herr Professor, wegen eines Bedenkens fragen, das mir bei der ersten Lektüre von Gödels\IN{\goedel} Arbeit\IW{\goedelmetamathematik} gekommen ist? Dieses Bedenken ist ja vermutlich nicht stichhaltig (ich habe die Arbeit\IW{\goedelmetamathematik}, die ich vor etwa einer Stunde erhielt, gerade nur durchgeflogen), aber es \uline{scheint} mir grundsätzlich und \uline{von aller formalen Beweistechnik unabhängig zu sein}. Ich möchte es folgendermaßen formulieren: \uline{1)} $S$ sei ein widerspruchsfreies System von Formeln, innerhalb dessen der (richtige) Satz a: ,,$S$ ist widerspruchsfrei`` zwar formuliert, aber nicht bewiesen werden kann. \uline{2)} Dann muß es auch ein widerspruchsfreies System $S'$ geben, innerhalb dessen der Satz $a$ auch beweisbar ist; denn man braucht ja die Ausgangsformeln (Axiomensystem) von $S$ nur um den Satz $a$ zu erweitern, um zu $S'$ zu gelangen. -- \uline{3)} Da der Satz $a$ voraussetzungsgemäß richtig, und sein Negat in $S$ unbeweisbar ist, so kann durch die Erweiterung des Systems $S$ kein Widerspruch \sout{auftreten} in $S'$ entstehen. \uline{4)} Wird daher innerhalb eines Systems $S$ der Satz bewiesen: ,,Es gibt kein solches System $S'$``, so muß einer der drei folgenden Fälle vorliegen: (1) Es wurden spezielle Voraussetzungen über den Bau der Ausgangsformeln von $S'$ gemacht. (2) Das System $S$ ist (entgegen der Voraussetzung) widerspruchsvoll. (3) Es liegt ein Fehler im Beweis vor. \uline{5)} Der Fall (1) erscheint ausgeschlossen, wenigstens nach Gödel\IN{\goedel}, der in Erkenntnis\II{\erkenntnis} II., S.\,150\IW{} referiert: ,,Was in der obigen Arbeit gezeigt wird, ist, daß es \uline{kein System mit endlich vielen Axiomen} gibt, welches auch nur hinsichtlich der arithmetischen Sätze vollständig wäre. -- \ldots{} Für \uline{alle} formalen Systeme, für welche oben die Existenz unentscheidbarer arithmetischer Sätze behauptet wurde, gehört insbesondere die Aussage der Widerspruchsfreiheit des betreffenden Systems zu den in diesem System unentscheidbaren Sätzen.`` -- Durch die Hinzufügung des Satzes $a$ wird aber die Anzahl der Axiome jedenfalls nicht unendlich. \uline{6)} Da der Fall (3), den ich nicht beurteilen kann, doch recht unwahrscheinlich ist, so scheint mir nur der Fall (2) in Frage zu kommen; anders ausgedrückt; Falls Gödels\IN{\goedel} Beweis formal einwandfrei ist, so scheint er mir zu beweisen, daß der in diesem Beweis verwendete Kalkül (beziehungsweise die verwendeten Voraussetzungen), kurz, \uline{das verwendete Formelsystem $S$ widerspruchsvoll} ist. \uline{7)} Ich möchte bemerken, daß dieser Gedankengang sich folgendermaßen verallgemeinern läßt: Wenn es in einem System $S$ eine endliche Klasse \textkritik{oder Teilklasse}\fnA{Hsl.} von formal unentscheidbaren Sätzen gibt, so muß es immer ein System $S'$ geben, in dem \uline{diese} Sätze entscheidbar sind. Darüber, ob es in dem System $S'$ dann \uline{andere} unentscheidbare Sätze gibt, ist damit nichts gesagt. Ich wäre Ihnen \uline{sehr} dankbar, wenn Sie mir auf meine Bemerkungen antworten würden; vielleicht, falls Sie nicht näher eingehen wollen (beziehungsweise keine Zeit haben) mit der Mitteilung: ,,Ihre Bemerkungen sind unrichtig, was damit zusammenhängt, daß Sie ja nach eigener Angabe die Arbeit nicht gründlich studiert haben.`` (Selbstverständlich wäre es mir lieber, wenn Sie etwas ausführlicher antworten würden, als ich eben skizziert habe!) Mit den herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre Frau\IN{\ina} von meiner Frau\IN{\popperfrau} und von mir und mit vielem Dank bleibe ich} \grussformel{Ihr\\ Karl Popper} \briefanhang{Achensee, 26.\,Juli 1933. P.S. Mir ist natürlich klar, daß durch derartige Überlegungen wie die obigen nichts über die Existenz eines Widerspruchslosigkeitsbeweises \uline{bewiesen} werden kann; nur die \uline{Möglichkeit} des \uline{Gödelschen}\IN{\goedel} Beweises soll bestritten werden.} \ebericht{Brief, msl., 1 Seite, \href{https://doi.org/10.48666/871449}{RC 102-59-56}.}