Karl Popper an Rudolf Carnap, 26. Juli 1933 Juli 1933

Sehr geehrter Herr Professor‚

soeben erhalte ich ein Separatum von GödelsPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker Arbeit: „Über formal unentscheidbare Sätze usw.“BGödel, Kurt!1931@„Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“, Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 1931, 173–198

Ich danke Ihnen herzlichst, daß Sie mir diese Zusendung vermittelt haben. (Leider ist auf dem Kouvert kein Absender angegeben, sodaß ich nicht weiß, ob Sie oder Herr GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker mir die ArbeitBGödel, Kurt!1931@„Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“, Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 1931, 173–198 geschickt haben und mich auch bei GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker, dessen Adresse ich nicht kenne, nicht bedanken kann.)

Darf ich Sie, sehr geehrter Herr Professor, wegen eines Bedenkens fragen, das mir bei der ersten Lektüre von GödelsPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker ArbeitBGödel, Kurt!1931@„Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“, Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 1931, 173–198 gekommen ist? Dieses Bedenken ist ja vermutlich nicht stichhaltig (ich habe die ArbeitBGödel, Kurt!1931@„Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I“, Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 1931, 173–198, die ich vor etwa einer Stunde erhielt, gerade nur durchgeflogen), aber es scheint mir grundsätzlich und von aller formalen Beweistechnik unabhängig zu sein. Ich möchte es folgendermaßen formulieren:

1)\(S\) sei ein widerspruchsfreies System von Formeln, innerhalb dessen der (richtige) Satz a: „\(S\) ist widerspruchsfrei“ zwar formuliert, aber nicht bewiesen werden kann.

2) Dann muß es auch ein widerspruchsfreies System \(S’\) geben, innerhalb dessen der Satz \(a\) auch beweisbar ist; denn man braucht ja die Ausgangsformeln (Axiomensystem) von \(S\) nur um den Satz \(a\) zu erweitern, um zu \(S’\) zu gelangen. –

3) Da der Satz \(a\) voraussetzungsgemäß richtig, und sein Negat in \(S\) unbeweisbar ist, so kann durch die Erweiterung des Systems \(S\) kein Widerspruch auftreten in \(S’\) entstehen.

4) Wird daher innerhalb eines Systems \(S\) der Satz bewiesen: „Es gibt kein solches System \(S’\)“, so muß einer der drei folgenden Fälle vorliegen:

(1) Es wurden spezielle Voraussetzungen über den Bau der Ausgangsformeln von \(S’\) gemacht.

(2) Das System \(S\) ist (entgegen der Voraussetzung) widerspruchsvoll.

(3) Es liegt ein Fehler im Beweis vor.

5) Der Fall (1) erscheint ausgeschlossen, wenigstens nach GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker, der in ErkenntnisIErkenntnis, Zeitschrift II., S. 150B referiert: „Was in der obigen Arbeit gezeigt wird, ist, daß es kein System mit endlich vielen Axiomen gibt, welches auch nur hinsichtlich der arithmetischen Sätze vollständig wäre. –… Für alle formalen Systeme, für welche oben die Existenz unentscheidbarer arithmetischer Sätze behauptet wurde, gehört insbesondere die Aussage der Widerspruchsfreiheit des betreffenden Systems zu den in diesem System unentscheidbaren Sätzen.“ – Durch die Hinzufügung des Satzes \(a\) wird aber die Anzahl der Axiome jedenfalls nicht unendlich.

6) Da der Fall (3), den ich nicht beurteilen kann, doch recht unwahrscheinlich ist, so scheint mir nur der Fall (2) in Frage zu kommen; anders ausgedrückt; Falls GödelsPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker Beweis formal einwandfrei ist, so scheint er mir zu beweisen, daß der in diesem Beweis verwendete Kalkül (beziehungsweise die verwendeten Voraussetzungen), kurz, das verwendete Formelsystem \(S\) widerspruchsvoll ist.

7) Ich möchte bemerken, daß dieser Gedankengang sich folgendermaßen verallgemeinern läßt: Wenn es in einem System \(S\) eine endliche Klasse oder TeilklasseaHsl. von formal unentscheidbaren Sätzen gibt, so muß es immer ein System \(S’\) geben, in dem diese Sätze entscheidbar sind. Darüber, ob es in dem System \(S’\) dann andere unentscheidbare Sätze gibt, ist damit nichts gesagt.

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir auf meine Bemerkungen antworten würden; vielleicht, falls Sie nicht näher eingehen wollen (beziehungsweise keine Zeit haben) mit der Mitteilung: „Ihre Bemerkungen sind unrichtig, was damit zusammenhängt, daß Sie ja nach eigener Angabe die Arbeit nicht gründlich studiert haben.“ (Selbstverständlich wäre es mir lieber, wenn Sie etwas ausführlicher antworten würden, als ich eben skizziert habe!)

Mit den herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre FrauPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap von meiner FrauPPopper, Josefine, 1906–1985, verh. mit Karl Popper und von mir und mit vielem Dank bleibe ich

Ihr
Karl Popper

Achensee, 26. Juli 1933.

P.S. Mir ist natürlich klar, daß durch derartige Überlegungen wie die obigen nichts über die Existenz eines Widerspruchslosigkeitsbeweises bewiesen werden kann; nur die Möglichkeit des GödelschenPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker Beweises soll bestritten werden.

Brief, msl., 1 Seite, RC 102-59-56.


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.