valep\(\mathsf{\TeX}\): conversion from \(\mathsf{\LaTeX}\) to HTML |
Sehr geehrter Herr Professor‚
soeben erhalte ich ein Separatum von Gödels
Ich danke Ihnen herzlichst, daß Sie mir diese Zusendung vermittelt haben. (Leider ist auf dem Kouvert kein Absender angegeben, sodaß ich nicht weiß, ob Sie oder Herr Gödel
Darf ich Sie, sehr geehrter Herr Professor, wegen eines Bedenkens fragen, das mir bei der ersten Lektüre von Gödels
1)\(S\) sei ein widerspruchsfreies System von Formeln, innerhalb dessen der (richtige) Satz a: „\(S\) ist widerspruchsfrei“ zwar formuliert, aber nicht bewiesen werden kann.
2) Dann muß es auch ein widerspruchsfreies System \(S’\) geben, innerhalb dessen der Satz \(a\) auch beweisbar ist; denn man braucht ja die Ausgangsformeln (Axiomensystem) von \(S\) nur um den Satz \(a\) zu erweitern, um zu \(S’\) zu gelangen. –
3) Da der Satz \(a\) voraussetzungsgemäß richtig, und sein Negat in \(S\) unbeweisbar ist, so kann durch die Erweiterung des Systems \(S\) kein Widerspruch auftreten in \(S’\) entstehen.
4) Wird daher innerhalb eines Systems \(S\) der Satz bewiesen: „Es gibt kein solches System \(S’\)“, so muß einer der drei folgenden Fälle vorliegen:
(1) Es wurden spezielle Voraussetzungen über den Bau der Ausgangsformeln von \(S’\) gemacht.
(2) Das System \(S\) ist (entgegen der Voraussetzung) widerspruchsvoll.
(3) Es liegt ein Fehler im Beweis vor.
5) Der Fall (1) erscheint ausgeschlossen, wenigstens nach Gödel
6) Da der Fall (3), den ich nicht beurteilen kann, doch recht unwahrscheinlich ist, so scheint mir nur der Fall (2) in Frage zu kommen; anders ausgedrückt; Falls Gödels
7) Ich möchte bemerken, daß dieser Gedankengang sich folgendermaßen verallgemeinern läßt: Wenn es in einem System \(S\) eine endliche Klasse
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir auf meine Bemerkungen antworten würden; vielleicht, falls Sie nicht näher eingehen wollen (beziehungsweise keine Zeit haben) mit der Mitteilung: „Ihre Bemerkungen sind unrichtig, was damit zusammenhängt, daß Sie ja nach eigener Angabe die Arbeit nicht gründlich studiert haben.“ (Selbstverständlich wäre es mir lieber, wenn Sie etwas ausführlicher antworten würden, als ich eben skizziert habe!)
Mit den herzlichsten Grüßen an Sie und Ihre Frau
Ihr
Karl Popper
Achensee, 26. Juli 1933.
P.S. Mir ist natürlich klar, daß durch derartige Überlegungen wie die obigen nichts über die Existenz eines Widerspruchslosigkeitsbeweises bewiesen werden kann; nur die Möglichkeit des Gödelschen
Brief, msl., 1 Seite, RC 102-59-56.