Rudolf Carnap an Herbert Feigl, 21. Juni 1933 Juni 1933

Lieber Herbert und liebes Kasperle!

Inzwischen sind vielleicht bei Euch schon große Familienereignisse geschehen, und wir wünschen von Herzen, daß alles gut gegangen ist. Wir hoffen, dann bald Nachricht zu bekommen. Auf die philos[ophischen] Fragen Deines Briefes (Febr.-März) habe ich immer noch nicht geantwortet. Das will ich nun endlich mal tun. Ich wollte, wir könnten es mündlich besprechen, da käme mehr heraus. Beispiel:

Formatierung!

psychol. Sprache:

A „N. stellt sich ein Haus vor“

physikal. Sprache:

B1 „Das Gehirn des N. ist im Zustand des Hausvorstellens“.

B2 „Im Gehirn des N. ist ein elektrochem[ischer] Zustand der und der Art“ (Beschrieben mit Ausdrücken der Elektrochemie).

B1 und B2 sind beide Übersetzungen von A! Nach neuerer Terminol[ogie] unterscheide ich: A ist mit beiden gehaltgleich, und zwar mit B1 L-gehaltgleich (d. h. logisch-g[leich]), mit B2 P-gehaltgleich (physikalisch-g[ehaltgleich]), d. h. gegenseitig übersetzbar (ableitbar) unter Mitverwendung der Naturgesetze, die unter die Grundsätze der Sprache mit aufgenommen sind. So hast du bei B2 recht! Ebenso ists mit der Gleichzeitigkeit von Tast- und Sehfrühstück, und mit der Übereinstimmung zwischen direkter und indir[ekter] Längenmessung. Deine Bem[erkung] S. 9 unten ist völlig zutreffend.

Der Unterschied zw. Naturges[etzen] und log[ischen] Gesetzen ist schon da, aber nicht so ungeheuer, wie wir (mit Wittg[enstein]PWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph) früher annahmen. Auch die log[ischen] Grundsätze der Sprache werden geändert, wenn uns das zweckmäßig erscheint; und zwar nicht etwa nur auf Grund einer Überlegung am grünen Tisch, sondern u. U. veranlaßt durch Erfahrung! Durch Ausschaltung der inhaltl[ichen] Redeweise seien „die wirkl[ich] grundlegenden Fragen verdrängt“. Im Kap. V wollte ich ja diese Fragen nicht stellen, geschweige lösen, sondern nur über ihre Formulierung sprechen. Gewiß kommt jetzt erst die gr. Aufgabe, die wichtigen Fragen zu stellen, und dann ihre Beantwortung zu versuchen.

Der ganze Weltknoten wird wohl schließlich etwa darauf hinauslaufaufen, daß man sich in geeigneter Form klar macht, daß die Gehirnvorgänge einerseites Objekt der wiss[enschaftlichen] Sätze sind, andrerseits kausale Ursache des Aussprechens von Sätzen. Oder so ähnlich. Die Aufgabe besteht darin, diesen an sich nicht geheimnisvollen Zusammenhang so zu formulieren, daß dem Menschen mit emotionalem (um das beleidigende Wort „metaphys[isch“ zu vermeiden] Magendrücken dieses erleichtert wird; (ob es ganz beseitigt werden kann, ist eine Frage der Psychol[ogie] und viell[eicht] eine prakt[ische] Aufgabe der Psychoanalyse).)

Großhirnrinde in Nährlösung. Ist das anders als etwa bei einem eingesperrten Menschen, dem man durch Kino, gefälschte Briefe usw. vorspiegelt, er sei der Beherrscher der Welt? Er glaubt dann eben Vieles, was nicht wahr ist. Nur quantitativ vergrößerter Fall des Wald- und Wiesenirrtums (error communis). Wo ist hier das philo[ophische] Problem? (Sollte ich es übersehen haben, so entschuldige meine notorisch lange Leitung). 🕮

4. Juli 1933

MalisoffPMalisoff, William, 1895–1947, russ.-am. Philosoph hat mir geschrieben, daß das erste Heft der ZSIPhilosophy of Science, Zeitschrift schon Okt. od[er] Nov. erscheinen soll, und daß ich Herausgeber sein soll, „für den Kontinent“ schreibt er, indem Miss StebbingPStebbing, Susan, 1885–1943, brit. Philosophin es für England ist. Ich habe ihm geschrieben, daß ich gern einen kl[einen] AufsatzB1934@„On the Character of Philosophic Problems“, Philosophy of Science 1 (1), 1934, 5–19 schreiben möchte. Inzwischen hab ich ihn jetzt geschrieben und schicke Dir gleichzeitig das MSB1934@„On the Character of Philosophic Problems“, Philosophy of Science 1 (1), 1934, 5–19. Es wäre mir sehr lieb, wenn der AufsatzB1934@„On the Character of Philosophic Problems“, Philosophy of Science 1 (1), 1934, 5–19 im 1. Heft erscheinen könnte. Ich hoffe, es ist noch Platz dafür. Da ja noch Zeit genug ist, könntest Du mir vielleicht das MSB1934@„On the Character of Philosophic Problems“, Philosophy of Science 1 (1), 1934, 5–19 wieder zurückschicken, mit Bemerkungen und Vorschlägen. Sollte aber MalisoffPMalisoff, William, 1895–1947, russ.-am. Philosoph wünschen, daß das MSB1934@„On the Character of Philosophic Problems“, Philosophy of Science 1 (1), 1934, 5–19 schon jetzt gleich übersetzt und in Druck gegeben wird, so schicke es bitte an M[alisoff]PMalisoff, William, 1895–1947, russ.-am. Philosoph oder direkt an BlumbergPBlumberg, Albert E., 1906–1997, am. Philosoph zum Übersetzen. Es ist wohl am besten, wenn du an M[alisoff]PMalisoff, William, 1895–1947, russ.-am. Philosoph schreibst, daß du das MSB1934@„On the Character of Philosophic Problems“, Philosophy of Science 1 (1), 1934, 5–19 bekommen hast, und fragst, wann er bezw. BlumbergPBlumberg, Albert E., 1906–1997, am. Philosoph es haben muß.

An die Rockef[eller]IRockefeller Foundation-Leute hat LewisPLewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. Philosoph und dann auch ich selbst geschrieben. Sie haben geantwortet, daß ihre Reisepläne zunächst zu sehr besetzt sind, sodaß sie erst im Spätsommer oder Herbst den notwendigen Besuch in Prag machen können. Jedenfalls würden sie ihn so bald wie möglich machen. Ich schließe daraus, daß ich nun, wo es für diesen Herbst zu spät geworden ist, vielleicht doch nicht bis Herbst 1934 warten muß. Ferner auch vor allem, daß die Sache wenigstens nicht ganz aussichtslos steht, da sie mir das sonst wohl geschrieben haben würden. Also hoffen wir weiter, vielleicht auf Februar 1934.

Mein MS „Log[ische] Syntax der Sprache“B1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 ist stark gekürzt worden, aber infolge Auftauchens eines neuen Kap. andrerseits wieder erheblich verlängert. Da mir dieses Kap. besonders wichtig erscheint, habe ich, im Einverständnis mit FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank, SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick vorgeschlagen, die Sache in 2 Bände zu teilen. Seit 2 Wochen warte ich täglich mit Spannung auf Antwort, aber vergeblich. Wahrsch[einlich] ist der Springermann verreist oder hat ungünstig geantworet, sodaß Schl[ick]PSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Hemmungen hat, mir zu schreiben. Nun wollen wir übermorgen nach Wien fahren. Da der Weihnachtsbesuch so schmählich fehlging, hoffe ich jetzt um so mehr auf zahlreiche lebhafte Diskussionen, und zwar im ZirkelISchlick-Zirkel, Wiener Kreis hauptsächlich über SyntaxB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934 Kap. V, und über Prot[okoll]sätze, ferner bes[onders] mit GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker über formale Probleme. Vielleicht fahren wir dann auch noch kurze Zeit in die Nähe von Wien auf die Berge. Wir müssen in diesem Jahr sehr sparen. Zum Glück hab ich eben ein gutes Honorar von MeinerIVerlag Meiner für einen erfreulichen Absatz des „Aufbau“B1928@Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee, 1928 1932 bekommen, dadurch ist die Reise möglich.

Herzlichen Dank für die Überweisung. Aber Postanweisung ist doch ein schlechter Weg in heutigen Zeiten. Sie brauchte bis zum 10. Juni. An sich eilt es nicht so, aber die lange Reise ließ die 15 $ auf 412 Kč zusammenschmelzen.

Steigen durch die Dollarentwertung die Preise bei Euch merklich? Muß man für die Zukunft zum Leben drüben wesentlich mehr kalkulieren als früher? 🕮

5. Juli 1933

Bitte schick mal den KnickerbockerB, den ich noch nicht ausgelesen hatte; ich möchte wenigstens nachträglich feststellen, was er über Hitler prophezeit hatte.

Im Mai war HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel für einige Wochen hier, das war fein. Jetzt wollten wir zusammen in Wien sein, aber er kann nicht hin, für Deutsche ist die Ausreise nach Österreich nicht erlaubt.

Die Math[ematik]-und Phys[ik]-TagungI wird wahrsch[einlich] aus diesem Grund von Salzburg nach München verlegt. Da die Wiener nicht in M[ünschen] auftreten wollen (was verständlich ist), ist unser Plan der gleichzeitigen Tagung f[ür] Erk[enntnis]-LehreI für dieses Jahr aufgegeben worden.

In diesem Monat soll endlich Heft 4-5 der Erk.IErkenntnis, Zeitschrift erscheinen, womit dieser Band schließen wird. MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger war heute hier. Er sagt, daß die Erk. sich noch erstaunlich gut hält, einstweilen, er will sie also weiterführen. Es ist wohl am einfachsten, wenn Du von Bd. 4 ab selbst abonnierst; entweder drüben durch eine Buchhandlung, oder als MachvereinsmitgliedIVerein Ernst Mach zum ermäßigten Preis direkt beim VerlagIVerlag Meiner. Ich erzählte MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger von der geplanten amerik[anischen] Zeitschr[ift]IPhilosophy of Science, Zeitschrift. Er schlug vor, daß beide Zeitschriften fortlaufend ausführlich übereinander referieren (also von jedem Aufsatz nicht nur Titel, sondern einige Zeilen Inhaltsangabe). Vielleicht könntest Du das Ref. über Erk.IErkenntnis, Zeitschrift in der amerik[ansichen] ZSIPhilosophy of Science, Zeitschrift übernehmen und dir dadurch bei MeinerIVerlag Meiner ein Gratisabonmnement beschaffen? Vielleicht klärst Du die Frage zunächst mit MalisoffPMalisoff, William, 1895–1947, russ.-am. Philosoph, u. dann mit ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach.

Ich dachte auch daran, meine AufsätzeB auch in deutsch gesammelt herauszubringen. Aber MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger sagt: augenblicklich nicht möglich. Wegen der engl[ischen] Übers[etzung] werde ich jetzt nochmal an BlumbergPBlumberg, Albert E., 1906–1997, am. Philosoph schreiben, er hat mir nie geantworet, vielleicht kannst Du ihn mal zu einer Antwort drängen.

SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick ist, nach Lesen des MSBPopper, Karl R.!1932@„Ein Kriterium des empirischen Charakters theoretischer Systeme (vorläufige Mitteilung)“, Erkenntnis 3, 1932/33, 426-427 von PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper, auf einmal begeistert dafür, nachdem er im Dez. sehr abfällig über P[opper]PPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper sprach (nach dessen Ref[erat] bei GomperzIGomperz-Zirkel oder -KreisPGomperz, Heinrich, 1873–1942, öst.-am. Philosoph, verh. mit Adele Gomperz). Jetzt soll P[opper]sPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper BuchBPopper, Karl R.!1935@Logik der Forschung, Wien, 1935 in der Schlick-Slg.IVerein Ernst Mach!1929@Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis, Wien, 1929 erscheinen, stark gekürzt. Das ist ja erfreulich.

In Deutschl[and] wird kolossal abgebaut. Die Math[ematik] und Physik in GöttingenIUniversität Göttingen ist nur noch eine Ruine. Viele werden sich jetzt nach Amerika wenden. Dadurch werden wohl auch Deine weiteren Chancen (f. größere Univ.) und meine Chancen erst recht verringert. MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger sagt, LiebertPLiebert, Arthur, 1878–1946, dt.-brit. Philosoph habe schon vier Rufe ins Ausland bekommen (obs wahr ist?), darunter auch von der New York UniversityINew York University (NYU), New York NY; er wolle aber in Deutschl[and] bleiben.

Dir und KasperlePKasper, Maria, 1904–1989, auch Kasperle, heiratete 1931 Herbert Feigl viele herzliche Grüße, auch von InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap

Dein
Carnap

Brief, msl., 3 Seiten, HF 02-69-02; Briefkopf: msl. Prag, den 21. Juni 1933.


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