Kazimierz Ajdukiewicz an Rudolf Carnap, 10. April 1933 April 1933

Sehr Geehrter Herr Professor!

Ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief vom 19. III. 33 und für die in ihm enthaltenen sachlichen Bemerkungen zu meiner Auffassung von „Sinn“. Es zeigt sich, daß Sie in Ihrem BuchB1934@Logische Syntax der Sprache, Wien, 1934, welches Sie für den Druck eben fertig machen, eine andere Auffassung desselben Begriffs als ich vertreten. Über die Frage, welche dieser beiden Auffassungen besser dem üblichen Sprachgebrauche entspricht (Ihr „Gehalt“ oder mein „Sinn“) kann ich mir vorläufig kein Urteil bilden, da ich von Ihrem „Gehalt“ noch zu wenig weiß. Aus der kurzen Andeutung, welche Sie in Ihrem Briefe machen, sehe ich, daß Ihre Gehaltgleichheit mit gegenseitiger Ableitbarkeit zweier Sätze eng zusammenhängt. Da aber die Ableitbarkeit – so weit ich sehe – in Bezug auf die Schlußregeln und vorausgesetzte Thesen relativ ist, glaube ich, daß auch die Gehaltgleichheit relativ wird. Ich würde darin eine Abweichung von dem üblichen Sprachgebrauch sehen. Ebenso weicht auch die Konsequenz, die Sie schon zugegeben haben, daß alle „Tautologien“ gehaltgleich sind, nach meinem Urteil, vom üblichen Sprachgebrauche ab. Im übrigen glaube ich, daß jede exakte Definition vom üblichen Sprachgebrauche, der immer wankend ist, abweichen muß und finde, daß es sich jedenfalls lohnt sowohl ihre Definition wie auch die meinige in ihren Konsequenzen zu verfolgen.

Ich habe tatsächlich ihre Bemerkung über zwei ihrem Wortlaut nach gleichen Axiomensysteme, die sich in bezug auf die Wahl der Grundzeichen unterscheiden, mißverstanden. Das kommt daher, daß ich unter „Grundzeichen“ eine in den Axiomen auftretende Konstante verstehe (sofern es sich um solche axiomatische Systeme handelt, die kein anderes System voraussetzen). Ein Verfahren 🕮 wie es RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell treibt, daß er eine Definition vor die Axiome setzt, ist sicher unkorrekt (höchstens daß er diese Definition zu den Axiomen zählt, was er aber nicht tun kann, da in seinem System die Definition eigentlich eine Schlußregel ist). Denn bei solchem Verfahren hängt das Zeichen, mittels dessen man definiert, vollkommen in der Luft. Es bekommt seinen Sinn weder von den Axiomen noch von einer Definition. (Bei RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph, in zweiter Ehe verh. mit Dora Russell, ab 1936 verh. mit Patricia Russell herrscht übrigens eine Definitionsanarchie, welche sein System sicher zu unvorgesehenen Konsequenzen führen kann).

Ich glaube aber, daß wenn man solchen Bau eines axiomatischen Systems zuläßt, so verbietet meine Definition der Übersetzbarkeit nicht zwei solche Systeme als übersetzbar aufzufassen.

Leider habe ich bisher keine Antwort vom Herrn Prof. ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach erhalten, und bin auch deshalb um das Schicksal meines Aufsatzes etwas beunruhigt. Ich werde mir demnächst erlauben, an Ihn direkt zu schreiben und würde auch Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie bei Gelegenheit Herrn ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, ab 1921 verh. mit Elisabeth Reichenbach, ab 1946 verh. mit Maria Reichenbach an meine Abhandlung zu erinnern die Güte hätten.

Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Mühe und freue mich sehr über Ihre Äußerung, daß Sie gerne eine Gelegenheit mit mir in mündlichen Verkehr zu treten sehen würden. Es würde natürlich auch meinem Wunsche entsprechen. Vielleicht dürften wir Sie einmal bei uns in Lemberg als Gast einladen?

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr
K. Ajdukiewicz

Lwów, 10. IV. 1933.

Brief, msl., 2 Seiten, RC 028-01-03; Briefkopf: mit Bleistift: 10. 4. 33.


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